Der Kommissar entschied sich dazu, die
Treppe zu nehmen, um die Nachbarn zu befragen. Auf der obersten Etage
gab es nur die Wohnung des Opfers und einen Maschinenraum, der wohl
zum Fahrstuhl gehören musste. Wenn die anderen Wohnungen auch nur
annähernd so ausgestattet waren, wie das Penthouse aus dem er gerade
gekommen war, dann waren die Bewohner sicher nicht die üblichen
Verdächtigen.
Die Treppe war sauber, aber man sah ihr
an, dass sie nur selten benutzt wurde. Wenn der schrullige Hauswart
immer mit im Aufzug fahren musste, um ihn zu bedienen, musste man
davon ausgehen, dass der Täter dieses Treppenhaus benutzt hatte, um
ungesehen in die oberste Etage zu kommen. Oder zumindest das Haus
nach der Tat wieder zu verlassen. Er machte sich eine Notiz, dass er
das Hausfaktotum unbedingt danach fragen musste, ob und vor allem
wann das Opfer einen Besucher hatte. Immerhin konnte das der Mörder
sein.
Ich hatte meinen Kommissar gerade eingeholt, als er bei meinen
Lieblingsnachbarn klingelte. Es war die lautstarke Dame, die ihm die
Türe öffnete und ihr Outfit hätte nicht passender sein können.
Ein fast durchsichtiges Negligé in Blutrot. So viel will ich gar
nicht sehen. Scheinbar leben die beiden wirklich nur irgendwo
zwischen Bett und Küche.
Ich schwebte an ihr vorbei in die Wohnung um mich ein bisschen
umzusehen, viel wird sie dem Kommissar eh nicht zu erzählen haben.
Wer den ganzen Tag nur auf dem Rücken liegt, weiß allenfalls, wie
es um die Beschaffenheit der Decke und der Matratze steht, aber
nicht, was die Nachbarn so treiben. Was die beiden trieben, wusste
wahrscheinlich das ganze Haus...
Peter Zufall hielt ihr seine
Dienstmarke entgegen und versuchte, nicht zu genau hinzusehen, was
bei der Durchsichtigkeit des knappen Stoffes einer Herausforderung
gleichkam. Noch bevor sie das erste Mal den Mund öffnete, hatte sich
der Kommissar schon ein erstes Urteil gebildet: die nicht ganz
billige Spielgefährtin eines reichen Mannes. Und als sie das erste
mal sprach, sah er sich bestätigt.
„Mein Name ist
Zufall, ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zu ihrem Nachbarn,
Herrn Charon stellen.“
„Äh, wer ist'n
das?“
„Der Herr, der
über ihnen wohnt.“
„Den kennisch
nich.“
„Und ihr...
äh...
Sie drehte sich rum und brüllte in den
Flur.
„Martin, komm
mal her, hier ist ein Bulle der dich was fragen will!“
Es dauerte eine Weile, bis Martin sich
etwas übergezogen hatte und zur Türe geeilt kam. Zum Schließen
seines Bademantels hatte die Zeit allerdings ganz offensichtlich
nicht gereicht und seine Unterwäsche hatte er verkehrt herum
angezogen.
„Äh, ja bitte?“
„Kommissar
Zufall, ich hätte da ein paar Fragen zu ihrem Nachbarn aus der
obersten Etage.“
„Herr Charon?
Was ist mit ihm?“
„Er ist tot.
Können Sie mit etwas zu seinen Kontakten sagen? Bekam er öfter
Besuch?“
„Wir haben ihn
so gut wie nie zu Gesicht bekommen, Herr Charon war ein sehr
zurückgezogen lebender Mensch.“
Die junge Dame begann kichernd an der
Unterhose ihres Sugardaddys zu spielen, während der sich alle Mühe
gab, nicht zu viel Freude darüber zu zeigen. Peter Zufall verkniff
sich ein Grinsen.
„Hatte er zu
irgendjemandem hier im Haus engeren Kontakt?“
„Ich glaube
nicht. Wenn jemand etwas mehr über ihn weiß, dann vielleicht der
Verwalter. Eigentlich ist er immer bestens über alles hier im Hause
informiert.“
Der Kommissar bedankte sich für die
Auskünfte und verabschiedete sich von den beiden, die es sehr eilig
zu haben schienen, wieder in ihr Bett zu kommen, oder wo auch immer
sonst sie ihre Spielwiese aufgeschlagen hatten.
Meine Güte,
die beiden konnten ja nicht einmal während der Befragung die Finger
voneinander lassen. Und sie hatte ihn schon aus seiner Unterhose
geschält, bevor sie den Flur hinter sich gelassen hatten. Es war
nicht zu übersehen, dass er schon wieder zu neuen Schandtaten bereit
war und weil ich mir das nun wirklich nicht antun wollte, war ich dem
Kommissar schon eine Etage vorausgeeilt. Noch so ein Vorteil davon
tot zu sein, man kann Etagen einfach schwebend wechseln.
Unter den
beiden nymphoman veranlagten Bettgymnasten wohnt ein älteres
Ehepaar, die ganz offensichtlich bereits einen gewissen Grad der
Taubheit erreicht haben, denn es dauerte eine ganze Weile, bis sie
auf das wiederholte Klingeln des Ermittlers reagierten. Ihn hatte ich
noch nie zuvor gesehen, aber ihr war ich ein oder zweimal in der
Halle begegnet, während wir auf den Fahrstuhl warteten. Eine süße
kleine, leicht vergessliche Dame.
Langsam öffnete sie die Türe.
„Ja bitte?“
„Guten Tag,
Kommissar Zufall, Mordkommission.“
„Wer bitte?“
Er versuchte es etwas lauter.
„Kommissar
Zufall von der Mordkommission. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen
stellen.“
„Polizei? Meine
Güte, was ist denn geschehen?“
„Einer Ihrer
Nachbarn wurde tot aufgefunden, der Herr aus dem obersten Stock.“
„Oh, das tut mir
leid, er war immer sehr freundlich, wenn wir uns im Fahrstuhl
getroffen haben. Und er ist tot sagen Sie?“
„Ja, er wurde
ermordet aufgefunden.“
„Ermordet? Wie
schrecklich.“
Sie sah ängstlich in den Flur hinaus.
„Hier im Haus?“
„Ich befürchte
ja. Können Sie mir irgendetwas über Herrn Charon sagen?“
„Nein, ich...
also wir kannten ihn ja kaum. Ab und zu habe ich ihn unten in der
Halle gesehen oder bin mit ihm im Fahrstuhl nach oben gefahren, aber
das war auch schon alles.“
„Danke für die
Auskunft, einen schönen Abend noch.“
Die Türe wurde sofort geschlossen und
er konnte hören, wie der Schlüssel sich zweimal im Schloss drehte
und wie ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde. Es tat ihm ein
bisschen leid, dass er der älteren Dame Angst gemacht hatte, aber er
hätte sie ja schlecht belügen können.
Die Befragung der anderen Bewohner des
Hauses hatte auch nichts ergeben. Keiner kannte den Mieter aus der
obersten Etage genauer, einige wussten nicht mal, wie er heißt. Ein
Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Zeit würde, seine Kollegin
abzuholen. Dann würde er den Verwalter morgen noch einmal sprechen.
Sicher würde Cornelia auch dabei sein wollen. Doch jetzt galt es
erst mal sie ein bisschen besser kennen zu lernen. Noch am Morgen
hätte er nicht gedacht, dass er sich so schnell mit ihr verstehen
würde. Irgendwie freute er sich auf den ruhigen Abend mit ihr. Jetzt
wollte er noch schnell nach Hause, kurz unter die Dusche und etwas
anderes anziehen, bevor er sie im Hotel abholen würde.
Ich sparte mir,
den Kommissar zu begleiten. Ich war noch immer zu sehr fasziniert von
meinen Nachbarn. Interessant, wie man als Leiche gleich die Leichen
im Keller der anderen findet. Bei einigen der Hausbewohner hatte sich
das Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte schlagartig geändert.
Und ich hatte wirklich gedacht ich sei der einzige in diesem Haus mit
dem ein oder anderen Geheimnis. Und mein Mörder war wohl das größte
davon. Immerhin war er nicht zum ersten Mal bei mit gewesen, als er
mich ins Jenseits befördert hatte.
Cornelia Röbel stand unschlüssig vor
ihrem Schrank. Das Zimmer war wirklich ruhig und die Dusche hatte ihr
auch gut getan, doch jetzt ärgerte sie sich ein bisschen, dass sie
ihren dunklen Rock und die sexy Bluse doch nicht eingepackt hatte.
Sie machte also das beste aus dem, was ihr Koffer enthalten hatte und
war gerade fertig mit dem Anziehen, als es an ihrer Zimmertüre
klopfte. Sie warf noch einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel,
bevor sie einigermaßen zufrieden mit ihrem Aussehen ihrem neuen
Kollegen die Türe öffnete.
„Hallo Peter.
Na, wo wollen wir hin?“
„Na, deinem
Outfit nach erwartest du ein bisschen mehr als die Kneipe ums Eck.“
Er grinste und bewunderte wie sie ihre
Vorzüge reizvoll in Szene gesetzt hatte.
„Keine Sorge,
das hatte ich auch gar nicht vor, ich will dir ein bisschen die Stadt
zeigen, immerhin wirst du ja eine ganze Weile hier bleiben.“
Sie lächelte ihn an und nahm ihre
Handtasche von der kleinen Anrichte im Flur, bevor sie sich bei ihm
einhakte und die Türe hinter sich ins Schloss zog.
„Also? Wo geht
es hin?“
„Lass dich
überraschen.“
„Haben die
Befragungen noch etwas ergeben?“
„Nichts neues.
Und du kannst beruhigt sein, die einzig interessante Befragung steht
noch aus. Dazu wollte ich dich morgen mit zum Hausverwalter nehmen,
von den anderen Bewohnern wusste niemand etwas über das Privatleben
unseres Opfers.“
Sie stieg zu ihm ins Auto und schnallte
sich an, immerhin hatte sie gesehen, welchen Fahrstil ihr Kollege
üblicherweise an den Tag legte, doch heute Abend fuhr er gesittet
und hielt sich an alle Verkehrsregeln.
„Ich habe mir
die Akte vorhin einmal genauer angesehen. Viele Informationen hast du
ja noch nicht, aber eines ist mir doch aufgefallen: warum dieser
Fundort? Das passt so gar nicht zu der Wohnung. Und wie hat er die
Leiche aus der obersten Etage nach unten gebracht? Der Fahrstuhl kam
doch sicher nicht in frage oder? Und 6 Etagen über das
Treppenhaus... dann hätte man sicher irgendwelche Spuren finden
müssen.“
„Genau. Der
Fahrstuhl. Das ist irgendwie der Schlüssel zu diesem Fall. Unter
anderem deshalb will ich morgen unbedingt noch einmal etwas länger
mit dem Verwalter sprechen. Aber jetzt genug von der Arbeit, heute
Abend nichts berufliches mehr. Heute möchte ich dich einfach etwas
besser kennen lernen.“
Sie sah verlegen aus dem Fenster auf
die vorbeigleitenden Fassaden und versuchte angestrengt nicht
verlegen zu wirken.
Der Abend gestaltete sich doch noch
recht locker und die beiden Ermittler fanden sehr schnell heraus,
dass sie vieles miteinander gemeinsam hatten. Der Abend endete in
einer sehr exklusiven Bar über den Dächern der Stadt. Nicht gerade
billig, hier einen Drink einzunehmen, aber die Aussicht machte das
Geld auf jeden Fall wieder wett.
Kurz vor 23 Uhr setzte er sie wieder
vor dem Hotel ab und machte sich auf den Weg in seine Wohnung. Am
nächsten Morgen stand ein wichtiger Termin für dieses Fall an und
da wollte er unbedingt fit sein.
Während die
beiden sich amüsierten, hatte ich mich auf die Suche nach meinem
Mörder gemacht. Ihn zu finden war nicht schwer und ihm zu folgen
noch weniger. Dass mir das hier im Reich der Toten leicht fällt,
habe ich ja schon erzählt. Als ich ihn gefunden hatte, war ich ihm
eine Weile gefolgt und dabei war er plötzlich stehen geblieben und
hatte mich wissend lächelnd angesehen. Das hatte mich ein bisschen
verunsichert, denn bisher hatte mich noch niemand sehen können. Erst
als ich mich umdrehte, konnte ich sehen, dass sein Blick nicht mir
galt. Er war schon auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.
Da Cornelia gleich um die Ecke wohnte,
hatten sie sich vor dem Hotel verabredet, um dann gemeinsam den
Hausverwalter zu ihrem Opfer und seinen Gewohnheiten zu befragen.
Beide erhofften sich davon ein paar neue Ermittlungsansätze.
Allerdings liefen Sie als erstes wieder dem Hausmeister über den
Weg.
„Mister Charon
ist tot?“
„Ja. Er wurde
tot im Seepark gefunden.“
„Traurig. Er
wohnte schon lange hier.“
Cornelia kam eine Idee, vielleicht
wusste der Hausmeister zumindest die Antwort auf eine ihrer Fragen.
„Sagen Sie mal,
gibt es noch eine andere Möglichkeit in die oberen Etagen zu kommen,
als der antike Fahrstuhl in der Halle und das Treppenhaus?“
„Sicher! Hinter
den alten Gesindewohnungen gibt es einen Lastenaufzug. Aber der wird
eigentlich nur benutzt, wenn einer der Mieter auszieht. Das letzte
Mal ist sicher schon 2 Jahre her.“
„Danke für die
Information, das könnte noch wichtig werden. Haben Sie einen
Schlüssel zu dem Aufzug?“
„Nein, den hat
der Verwalter unter Verschluss. Der Aufzugschacht ist von den
Wohnungen aus nicht verriegelt, deshalb darf den Aufzug ohne Aufsicht
niemand benutzen!“
Peter sah seine Kollegin erstaunt an.
Sie hatte mit ihrer charmanten Art in wenigen Sekunden mehr
Neuigkeiten in Erfahrung gebracht als er mit seinen Befragungen der
Nachbarn am gestrigen Nachmittag. Er wartete bis sie in der Halle
standen, bevor er sie darauf ansprach.
„Wie kamst du
auf die Idee mit dem zweiten Lift?“
„Es musste eine
dritte Lösung geben, denn der Fahrstuhl und die Treppe hatten wir
doch schon ausgeschlossen, war einfach mal eine Frage ins Blaue.“
Sie klopften an der Türe des
Hausverwalters und wurden nach einem kurzen Gespräch zu ihm
hereingebeten. Doch nicht in seine Wohnung, sondern in einen Raum
direkt hinter der Türe, der nach einem Büro aussah. Ordentlich
aufgereihte Ordner in den Regalen und ein neuer PC auf dem
Schreibtisch, was keiner von beiden erwartet hätte.
„Nehmen Sie doch
Platz.“
„Danke.“
Peter Zufall übernahm die Befragung,
während seine Partnerin den Befragten erst einmal nur beobachtete.
„Der Hausmeister
sagte uns, dass es noch einen zweiten Aufzug gibt.“
„Das ist
richtig, der alte Lastenaufzug, damit würden früher die
Dienstbotentrakte der Wohnungen mit Waren beliefert. Heute nutzen wir
ihn nur noch für den Möbeltransport bei Ein- und Auszügen.“
„Ist der Zugang
zum Lastenaufzug für alle hier zugänglich?“
„Nein, der
Zugang ist verschlossen. Er führt auf den Hinterhof und ist doppelt
gesichert. Die Türe hat einen schweren Riegel und für das Schloss
braucht man einen Spezialschlüssel.“
Bei seinen letzten
Worten öffnete er eine Schublade des Schreibtisches und holte einen
großen Schlüsselbund hervor. Zielstrebig griff er nach einem
eigenartig geformten Schlüssel.
„Das ist der
einzige Schlüsse für den Fahrstuhlschacht.“
„Hatte Herr
Charon in letzter Zeit irgendwelchen Besuch? Jemand, der vielleicht
öfter hier war?“
„Ich führe über
so etwas nicht Buch.“
„Das ist keine
Antwort auf meine Frage.“
„Nein, nicht
dass ich wüsste. Mister Charon war immer sehr zurückhaltend und er
war der einzige Mieter, der den Fahrstuhl auch selbst bedienen
konnte. Ob er dabei immer alleine in seine Etage gefahren ist, kann
ich Ihnen aber nicht sagen.“
Nun versuchte Cornelia ihr Glück mit
dem sehr zurückhaltenden Mann.
„Wie war Mister
Charon so?“
„Freundlich.“
„Gab es
irgendwelche Besonderheiten?“
„Was meinen
Sie?“
„Nun,
irgendetwas, was Ihnen aufgefallen wäre, vielleicht etwas, was ihn
von den anderen Mietern unterschied?“
„Mister Charon
war ein sehr zurückhaltender Mensch, der immer höflich und
freundlich war. Es gab keine Skandale, niemand hat sich je über ihn
beschwert, was man von anderen Mietern leider nicht immer sagen
kann.“
„Gibt es
Familie, Angehörige von Herrn Charon?“
„Soweit mir
bekannt ist nicht.“
„Hatte er eine
Beziehung?“
„Das kann ich
Ihnen nicht sagen.“
Die Befragung brachte keine neuen
Erkenntnisse, aber eines gab es jetzt noch zu tun. Und Peter Zufall
kam sofort zur Sache.
„Wir würden uns
gerne den Lastenaufzug einmal genauer ansehen. Möglicherweise muss
die KTU da auch noch einmal dran.“
„Warum?“
„Mister Charon
wurde in seiner Wohnung ermordet und seine Leiche aus dem Haus
geschafft, ohne, dass es jemandem aufgefallen wäre. Über das
Treppenhaus oder den Fahrstuhl in der Halle wäre das wohl nicht
möglich.“
Nachdenklich begleitete der Verwalter
die beiden Kommissare durch den Hinterhof zur Aufzugtüre, die
tatsächlich gut verschlossen war. Nichts deutete darauf hin, dass
das in letzter Zeit einmal anders gewesen sein sollte. Umständlich
schloss er das Tor auf und ließ die beiden Ermittler in den
Fahrstuhl steigen. Der Fahrstuhlkasten war zu zwei Seiten hin offen
und hatte keine Wände. Im Inneren gab es ein kleines Tastenfeld, um
die Etagen auszuwählen und als Cornelia auf den Knopf der sechsten
Etage drückte, fuhr der Aufzug sanft und fast geräuschlos den
Schacht hinauf.
Oben angekommen, öffnete der Verwalter
eine Türe, die Peter Zufall von innen für die Türe einer
Vorratskammer gehalten hatte. Sie lag genau zwischen der kleinen
Küche und den angrenzenden Personalzimmern.
„Sagen Sie, hat
jemand hier im Haus noch Angestellte? Zimmermädchen, Koch oder
Butler?“
„Nein, die
Zeiten sind leider längst vorbei. Wir haben eine Reinigungsfirma,
die die gemeinschaftlich genutzten Räume, die Flure und Treppen
putzt, aber hier lebendes Personal hat heute keiner unserer Mieter
mehr.“
„Nun, dann werde
ich nachher die KTU noch einmal vorbeischicken müssen, halten Sie
bitte den Fahrstuhl abgeschlossen, bis die Kollegen hier alles
gesichert haben, was sich vielleicht an Spuren finden lässt.“
„Es kann niemand
diesen Aufzug benutzt haben, Herr Kommissar. Ohne meinen Schlüssel
kommt niemand hier hin.“
„Es gibt keinen
Ersatzschlüssel? Ganz sicher?“
„Es wäre mir
neu, wenn es noch einen zweiten Schlüssel gäbe und diesen hier hüte
ich wie meinen eigenen Augapfel. Er liegt immer in der verschlossenen
Schublade meines Schreibtisches. Und auch das Büro ist sorgsam
verschlossen, wenn ich es nicht benutze.“
Die beiden glaubten ihm sofort. Er war
noch von der alten Schule, die besonders ordentlich und fest in ihren
Arbeitsabläufen waren. Und als Mörder konnte sich das Ermittlerteam
diesen Mann auch beim besten Willen nicht vorstellen.
Als sie wieder nach unten gefahren
waren, schauten die beiden dem Hausverwalter noch beim Abschließen
der Türe zu und verabschiedeten sich dann noch einmal mit dem
Hinweis, die Türe verschlossen zu lassen, bis die Kollegen der
Kriminaltechnischen Untersuchung kamen, um Beweise zu sichern, falls
sich dort welche finden ließen.
Sie verließen das Gebäude durch den
Haupteingang und wanderten um das Haus herum, um sich den Zugang zum
Hinterhof genauer anzusehen. Im Nachbarhaus war ein großes
unverschlossenes Tor, das auf den Hof führte, der sich hinter
insgesamt sechs Häusern erstreckte und von einigen der Mieter wohl
als Parkplatz genutzt wurde, aber auch zwei Lieferwagen waren dort
geparkt. Einer davon wurde gerade mit Kisten beladen.
„Da drüben,
Peter.“
„Ja, ich sehe
es. Scheint hier Alltag zu sein, dass etwas aus- oder eingeladen
wird. Das dürfe es unserem Mörder leicht gemacht haben. Aus dem
Fahrstuhl heraus und direkt in einen Wagen. Und dann richtig
Seepark.“
„Tja, das Wie
ist also inzwischen ziemlich klar, was uns noch fehlt ist das Wer und
das Warum.“
Peter Zufall rief Dirk Brünn an und
bestellte ihn zur Überprüfung des Lastenaufzuges noch einmal an den
Tatort.
Dieser Moment
in dem ich dachte, er könne mich sehen, hatte mich aus dem Konzept
gebracht. Dabei konnte er mir doch jetzt nicht mehr gefährlich
werden. Ich meine, er hatte mich umgebracht, was wollte er also mehr
tun als das? Ich erholte mich schnell von dem Schock und folgte ihm
durch die Nacht. Vielleicht konnte ich verhindern, dass er ein neues
Opfer findet. Zumindest wollte ich es ihm so schwer wie möglich
machen. Allerdings hatte ich meine Zeit an ihn verschwendet, denn
ganz offensichtlich hatte er das richtige Opfer noch nicht gefunden
und war an anderen Menschen denen er begegnete nicht interessiert.
Erst in den
frühen Morgenstunden hatte er sich in seine derzeitige Wohnung
zurückgezogen und so kannte ich zumindest seinen Unterschlupf,
vielleicht würde das noch nützlich sein, doch vorerst schien er
sich erst einmal ausruhen zu wollen. Als Toter braucht man keinen
Schlaf, also machte ich mich als nächstes auf die Suche nach meinen
beiden Polizisten und fand sie im Hinterhof meines Wohnhauses. Sie
hatten also inzwischen herausgefunden wie meine Leiche aus der
Wohnung geschafft worden war. Das beruhigte mich, denn damit waren
wir schon einen ganzen Schritt weiter auf dem Weg der Aufklärung
meines Todes. Ich folgte den beiden aufs Präsidium und belauschte
neugierig ihre Gespräche zu meiner Akte.
Peter und Cornelia waren ins Büro
gefahren, wo sie auf ihren Schreibtischen die ersten Ergebnisse der
Forensiker vorfanden. Allerdings war die Masse an Beweismaterial
einfach zu groß, um schon einen abschließenden Bericht zum Tatort
zu haben. Doch die beiden waren dankbar für jeden noch so keinen
Ermittlungsansatz den sie in den Akten vielleicht finden würden.
„Das sieht nach
einer sehr brutalen Art aus einen Menschen zu töten.“
„Ja, aber das
hatte ich nach dem Fund der Leiche schon gedacht. So viele
Verletzungen hab ich noch nie an einer einzigen Leiche gesehen.“
„Laut KTU gibt
es keinerlei Einbruchsspuren, was bedeutet, dass das Opfer seinen
Mörder kannte. Hat er ihn selbst mit in seine Wohnung gebracht?“
„Davon muss man
ausgehen. Obwohl... der Lastenaufzug wäre auch eine Möglichkeit
ungesehen in die Wohnung zu gelangen.“
„Wenn die Türe
im Hinterhof nicht wäre.“
„Da die Leiche
aber doch nur so aus der Wohnung geschafft worden sein kann, muss der
Täter einen Schlüssel haben. Vielleicht gibt es eben doch einen
Zweitschlüssel für den Aufzugschacht.“
„Noch haben wie
keinen Beweis, dass unsere Theorie stimmt. Warten wir mal ab, was
Dirk nachher zu den Spuren zu sagen hat, wenn es denn überhaupt
welche gibt.“
Cornelia beugte sich über die Akte und
las jedes Wort noch einmal. Dabei versuchte sie sich die Tat
vorzustellen, die zu den Spuren geführt hatte. Die Verstümmelungen,
die Schnitte, das viele Blut. Der Tatort und der Fundort. Das alles
musste doch einen Grund haben.
„Warum hat er
die Leiche im Seepark abgelegt, aber den Tatort unberührt gelassen?
Das macht doch keinen Sinn. Dann hätte er doch die Leiche auch
einfach liegen lassen können. So schnell hätte die doch niemand
gefunden.“
„Vielleicht
doch. Der Geruch der Verwesung wäre vielleicht den Nachbarn
aufgefallen.“
„Aber die Leiche
war doch nicht vergraben oder? Sie lag doch einfach nur im Unterholz
des Parks oder?“
„Ja, warum?“
„Das ergibt
alles keinen Sinn. Ein ungereinigter Tatort, eine weggeschaffte
Leiche, die aber dann nicht einmal wirklich versteckt wird. Wenn ich
nicht entdeckt werden will, dann lasse ich die Leiche verschwinden
und reinige den Tatort. Hätte der Täter das getan, würden wir
nicht ermitteln, denn es gäbe keinen Fall. Und selbst wenn
irgendwann jemand das Opfer als vermisst gemeldet hätte, ohne die
Leiche wären wir doch aufgeschmissen...“
„Du hast Recht.
Das ergibt alles keinen wirklichen Sinn.“
Als ob ein
tieferer Sinn hinter meinem Tod stecken würde. Ich bin tot, weil
jemand seinen Spaß daran hatte. Er hatte kein anderes Motiv als
einfach jemanden sterben zu sehen. Aber wie kann ich das meinen
beiden Kriminalisten klar machen? Vielleicht hätte ich die Sache mit
dem Besessen sein inzwischen doch einmal ein bisschen über sollen.
Es war zum Verzweifeln, den beiden dabei zuzusehen, wie sie keinen
Schritt weiterkamen und gleichzeitig zu wissen, dass mein Mörder
schon wieder nach einem neuen Opfer suchte.
Cornelia Röbel machte sich gerade
Notizen, als ihr eine Idee kam.
„Versuchen wir
es mal umgekehrt, Peter!“
„Umgekehrt?“
„Ja, schließen
wir aus, was auf keinen Fall infrage kommt, vielleicht bringt uns das
was übrig bleibt auf eine heiße Spur.“
„Gut. Raubmord
lässt sich ausschließen. Die Wohnung war voller Kunstwerke und
teurer Elektrogeräte und es lag ein ganzes Bündel Geldscheine in
seiner Kommode. Wenn es um Raub gegangen wäre, dann wäre nichts
davon noch an seinem Platz.“
„Es gibt
keinerlei Hinweis auf eine persönliche Beziehung, also können wir
einen Beziehungsmord auch ausschließen. Keine Rache, keine
verschmähte Liebe, kein Scheidungskrieg, nichts greifbares.“
„Stop! Rache
würde ich erst einmal nicht ausschließen wollen. Alles an diesem
Tatort schreit geradezu, dass Hass und Rache eine Rolle spielen
könnten.“
„Ich kann in
seinen Unterlagen nicht den geringsten Hinweis darauf finden, dass er
irgendwelche Feinde hatte.“
„Dazu könne wir
wahrscheinlich nichts sagen. Jedenfalls noch nicht. Ich glaube, wir
wissen einfach zu wenig über Mister Charon, um das ausschließen zu
können.“
„Ritualmord?“
„Keine der
üblichen Symbole oder Blutschmierereien an den Wänden, keine
Pentagramme, Voodoo oder andere magische Zeichen in den Räumen oder
an der Leiche. Selbst die Verletzungen konnte unser Forensiker Dirk
nicht in irgendeinen Zusammenhang mit etwas Okkultem bringen. Ich
glaube das ist eine Sackgasse.“
„Also
Ritualmord, Beziehungstat und Raum schließen wir erst einmal aus?“
„Was bleibt
dann?“
„Ich sehe da
einfach kein Motiv, aber es muss eins geben. Dieser Mord war so
brutal, es muss etwas persönliches sein zwischen dem Opfer und
seinem Mörder.“
Die beiden grübelten verzweifelt über
alle möglichen Motive nach, aber ohne weitere Hinweise, irgendwelche
Spuren, einen möglichen Verdächtigen hatten sie einfach keinen
Ansatzpunkt mehr. Dieser Fall war zum Verzweifeln, selbst die
Identität und der Tatort waren einzig einem Zufall zu verdanken. Und
das frustrierte den erfahrenen Ermittler und seine Kollegin
zunehmend.
Ich hatte sie
meine Leiche finden lassen, ihnen geholfen meine Identität
herauszufinden und dann den Tatort entdecken zu können, aber jetzt
wusste ich einfach nicht weiter. Wie sollte ich ihnen helfen? Ich
kannte meinen Mörder, wusste sogar wo er sich gerade aufhielt und
dass er ein neues Opfer suchte, aber ich konnte es den beiden nicht
einfach sagen. Zum ersten Mal seit meinem Tod hatte ich das Gefühl
in der Hölle zu sein.
Der Forensiker Dirk Brünn klopfte an
die Türe und brachte den beiden seine neuesten Ergebnisse. Peter
Zufall hatte das Gefühl, dass es an seiner neuen Kollegin lag, dass
der sonst so an sein eigenes Reich gefesselte Leiter der Forensik aus
den Katakomben in den zweiten Stock kam.
„Ich hab hier
was für euch. Der Lastenaufzug war gereinigt worden, aber zwischen
dem vierten und fünften Stock habe ich Blut an der Wand des Schachts
gefunden und noch etwas: ein Haar, dass nicht dem Opfer gehört.
Dunkelbraun, männlich, keine Treffer in den Datenbanken.“
„Also suchen wir
nach einem dunkelhaarigen Mann. Das halbiert unsere Verdächtigen.“
„Spar dir den
Sarkasmus, Peter.“
„Das sagst du so
einfach, Dirk, dieser Fall ist zum Verzweifeln.“
„Sag das nicht,
Du hast bisher noch jeden deiner Fälle gelöst, außerdem kann ich
euch mit noch ein paar anderen Details behilflich sein, was die Tat
und den Tatablauf angeht. Das Opfer wurde über mehrere Tage gequält
und verletzt, bevor der Täter ihn letztendlich umbrachte. Da ist ein
Sadist am Werk, gegen der Marquis de Sade ein Waisenknabe ist. Wenn
ihr mich fragt, dann war die Qual seines Opfers der Motiv für diesen
Mord.“
Nach dieser Information herrschte
Schweigen in dem kleinen Büroraum. Aber schnell war den beiden
Kommissaren klar, dass dieses Motiv perfekt in das Bild des Mordes
passte. Cornelia war die erste, die ihre Gedanken in Worte fasste.
„Dann hat er
vielleicht schon vorher gemordet.“
„Ja. So wie der
Tatort aussah ganz sicher.“
„Und so wie die
Leiche zugerichtet war erst recht, denn er wusste genau, wie weit die
Schnitte gehen durften ohne das Opfer sofort zu töten.“
Wieder war es Cornelia, die einen
weiteren wichtigen Punkt zur Sprache brachte.
„Er hat keine
Angst erwischt zu werden. Er weiß genau was er tut und wenn ihn
nichts mit seinen Opfern verbindet, wird es schwer für uns, ihn zu
finden.“
„Wir sollten in
den Akten der offenen Fälle nachsehen. Fälle mit besonderer
Brutalität und Grausamkeit. Es muss vorher schon Opfer gegeben
haben.“
„Dann schmeiß
deinen Rechner mal an, Peter, ich mache mich wieder auf in die
Forensik.“
Ja, es musste
andere wie mich geben. Andere, die er verzaubert hat, die er
manipuliert hat. In deren Leben er sich eingeschlichen hat und die am
Ende mit dem Tod dafür bezahlen mussten, dass sie ihn in ihr Leben
gelassen hatten. Das traf mich wie ein Schlag und machte mir klar,
warum ich hier war. Ich hatte eine Aufgabe, ich musste zwei guten
Ermittlern dabei helfen ihn zur Strecke zu bringen. Deshalb war ich
hier zwischen den Welten.
Sie verbrachten den ganzen Tag vor dem
Rechner und in den Archiven und als die Sonne unterging hatten sie
vier weitere Fälle gefunden, die in das Muster passten. Einer davon
hier, die anderen drei über das ganze Land verteilt. Der älteste
bereits zehn Jahre her. Es musste noch andere geben, aber viele
kleinere Städte hatten nicht die technischen Mittel, und das
Personal all ihre Fälle in das System einzugeben.
„Wir suchen
einen Serienmörder.“
„Ja, eindeutig,
Cornelia. Ich werde die Unterlagen zu all dieses Fällen anfordern,
vielleicht bekommen wir so genug Informationen zusammen, um einen
Verdächtigen zu finden. Keiner der Fälle ist aufgeklärt, es gab
nie einen Verdächtigen, aber vielleicht gibt es dort auch Spuren,
wie unser Haar.“
„Das wäre aber
wirklich ein Glückstreffer.“
„Nein, so wenig
wie er darauf achtet unentdeckt zu bleiben, muss es einfach andere
Hinweise geben!“
FORTSETZUNG FOLGT...