In der Stunde vor der Stille, das Gras
noch feucht vom Tau, der zärtlich die Halme benetzt, stieg Nebel
langsam aus dem Boden. Seine blassen Schleier sammelten sich in der
Senke des Tales und verhüllten schützend das Land. Dunkle
Nebelbänke zogen schleichend zwischen die Bäume des nahen Waldes
und wurden dichter und dichter, noch bevor die Dämmerung das Licht
der Sonne ankündigte. In der Stunde vor der Stille legte sich ein
Nebel mit seiner düsteren Kälte auch über sein Herz und er
schwieg.
Im Angesicht der grauen Nebelbänke im
weiten Tal zu seinen Füßen nahm ihm die friedvolle Stille jedes
Wort, das sich in seinem Kopf staute und die Gedanken starben, bevor
er ihnen mit seinen Lippen die Freiheit schenken konnte. Grabesstille
über einem Land, das noch schlief. Grabesstille in seinem zerrissen
Herzen.
Stumm wanderte sein Blick in die Ferne
und über den Nebel, der alles verschluckte, als würde die Welt
beginnen, sich an ihren Rändern in das Nichts aufzulösen.
Verwischte Konturen, körperlose Schatten, mehr war nicht zu sehen,
von dem was vielleicht vor ihm liegen mochte.
Die ersten Strahlen der Sonne, die über
den Horizont reichten, begannen die Dunkelheit in seinem Herzen
auszulöschen und wärmten seine sorgenvolle Seele. Sie liebkosten
zärtlich sein Gesicht und gaben ihm den nötigen Mut für den ersten
Schritt auf seiner Reise in das Unvorhersehbare, das Ungewisse. Der
Nebel begann sich zu lichten und gab ihm den Weg frei, vor dem er
sich vor wenigen Minuten noch gefürchtet hatte.
Als er begann, langsam einen Fuß vor
den anderen zu setzen, überraschte ihn, wie leicht es ihm fiel und
wie selbstverständlich es sich in seinem Herzen anfühlte. Das Land
glitt unter seinen Schritten dahin. Die Erdkugel drehte sich unter
seinen Füßen hindurch und er fühlte sich leicht. Mit jedem Schritt
stieg seine Zuversicht, das Ziel auch zu erreichen, von dem er noch
nicht einmal wusste, was es war oder wo er danach zu suchen hatte.
Er konnte nicht anders, als er durch
die grünen Auen wanderte und begann ein Lied zu pfeifen. Die Welt
schien ihm freundlich gesinnt zu sein. Er genoss das flirren der
Strahlen zwischen dem jungen Grün der Bäume, lauschte auf das Lied
des Windes in ihren Kronen. Das Rascheln der Blätter, das
Gezwitscher der vielen buntgefiederten Vögel und das Plätschern des
kleinen Baches an dessen Ufer er entlang schritt. All das vereinte
sich zum Gesang des Waldes, in den er mit seinem eigenen Lied
einstimmte.
Wie hatte sein Herz nur so schwer
werden können, wenn er diese wunderbare Welt rings um sich
betrachtete! Lag dem nicht ein Zauber inne, den keine noch so dunkle
Macht besiegen konnte? Er würde sich bald einen Platz für eine
kleine Rast suchen müssen. Schon seit einiger Zeit knurrte sein
Magen und murrte über jeden Schritt den er machte. Vielleicht waren
es auch einfach seine Gedanken, die bereits seit geraumer Weile um
das frische Brot und den Laib Käse in seiner Tasche kreisten. Doch
er wollte so weit wie möglich kommen, bevor die Nacht hereinbrach.
Also erlaubte er sich nur eine kurze
Rast auf einem dunkelgrauen Felsbrocken, der auf einer kleinen
Lichtung lag, als hätte ihn ein Riese auf seiner Wanderung einfach
achtlos fallen lassen. Der Stein hatte die Wärme der Sonne
eingefangen und hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Angenehm warm
fühlte sich der Sitz an, den er sich da ausgesucht hatte. Ein
Schluck Wasser aus dem klaren Quell, dem er schon seit dem Morgen
gefolgt war, ein Stück des deftigen Brotes und eine kleine Scheibe
von dem Käse seines Lehrmeisters, dann machte er sich wieder auf den
Weg.
Seinen Magen hatte er zufrieden
gestellt und fühlte sich für seinen weiteren Weg gestärkt. Die
Sonne hatte ihren höchsten Stand längst erreicht gehabt, als er
sich zur Pause auf den Stein setzte und der Abend streckte seine Hand
schon nach den Tiefen des Waldes aus. Er legte noch ein Stück seines
Weges zurück, dann begann er nach einem Unterschlupf für die Nacht
Ausschau zu halten.
Die Dämmerung sickerte langsam
zwischen die Blätter der Bäume, als er am Rande einer Lichtung ein
Lager für die Nacht fand. Zwischen zwei großen Felsbrocken baute er
sich mit Zweigen und Laub ein trockenes Lager und bettete sich zur
Nacht. Rechtschaffen müde, wie er nach seiner langen Wanderung war,
fiel er sofort in einen tiefen Schlaf. Traumlos und erholsam, bis ihn
etwas weckte, von dem er nie ein Zeuge hätte werden sollen.
* * *
Sie trafen sich auf einer kleinen
Lichtung, ein kreisrunder Platz inmitten des dichten Waldes, nur mit
niedrigem Gras und Moos bewachsen. Sanft fiel das Mondlicht auf das
satte Grün des weichen Bodens und die beiden riesigen Felsbrocken,
die zwischen den Stämmen am Rande der Wiese lagen. Nur das düstere
Dickicht der umstehenden Bäume konnte auch der silberne Mond nicht
erhellen.
Als sie zögernd und doch ohne
Widerstand die Lichtung unter dem wolkenlosen Sternenhimmel betrat,
verstummte das leise Rascheln der Blätter zu einer andächtigen
Stille. Aus dem Wald traten andere wie sie. Frauen jeden Alters, doch
alle mit dem unwiderstehlichen Drang diesen Platz aufzusuchen.
Wortlos bildeten sie einen Kreis.
Nyra schloss die Augen und es war als
ob die Stille zu ihr spräche. Ungehörte Worte, die sich in ihrem
Kopf aus tonlosen Silben formten. Wie in Trance begann sie die Worte
mitzusprechen, die ihr die Stille in den Kopf gepflanzt hatte. Erst
still, nur mit den Lippen, dann immer lauter. Und ihre Schwestern
taten es ihr gleich...
"Wir sind die
Töchter der Nacht, die Kinder des Mondes, nur er gibt uns Kraft."
Wie ein magisches Mantra wiederholten
sich die Worte immer wieder und wieder, steigerten sich in einem
wilden Chor. Nyra fühlte sich eins mit den anderen, fühlte sich in
die Luft gehoben, leicht und zugleich völlig geborgen und sicher.
Sie war Teil eines Ganzen. Eine Erkenntnis, die sie zutiefst
erschütterte und gleichzeitig unendlich glücklich machte, auch wenn
sie nicht absehen konnte, welche Folgen das für ihr Leben haben
würde.
Sie spürte das feuchte warme Gras
unter ihren Füßen, öffnete die Augen und sah, dass die Bäume am
Rande der Lichtung mit Ihren Stämmen und Ästen Säulen und Bögen
bildeten, eine Kathedrale aus Holz und Laub. Ihre Schwestern
richteten ihre erstaunten Blicke genauso zum Himmel, wie Nyra es tat.
Ein sanfter, warmer Strahl reinen Mondlichtes erhellte den Tempel und
ließ ihre Gesichter aufleuchten. Nyra fühlte eine neue, unbekannte
Kraft in sich und begriff, was es bedeutete, eine Tochter der Nacht
zu sein.
* * *
Die engelhaften Stimmen hatten sich in
seinen Schlaf gestohlen, ihn sanft geweckt und ihm das Gefühl
gegeben, dass dort etwas Besonderes geschah und er keine Angst zu
haben brauchte. Vorsichtig öffnete er die Augen und was er sah,
raubte ihm den Atem. Der Wald lebte, er veränderte sich. Äste
wuchsen zu einer Halle zusammen und bildeten ein schützendes Dach
über der Gruppe elfenhafter Wesen, die in Verzückung im fahlen
Licht des Mondes sangen und tanzten. Die Töchter der Nacht. Er
konnte sich daran erinnern in einem alten Buch davon gelesen zu
haben.
Tief in seinen eigenen Gedanken
verwoben und mit den vergilbten Seiten eines staubigen, halb
zerfallenen Folianten vor seinen inneren Augen, stolperte er in
Richtung der Baumkathedrale. Zu spät bemerkte er, dass eines dieser
zauberhaften Wesen in seine Richtung lief. Er war gefangen vom
Anblick ihres in Vollzücken leuchtenden Gesichtes, dass er völlig
vergaß, dass er zu dieser Veranstaltung nicht eingeladen war.
Auch sie nahm ihn erst wahr, als sich
ein Zusammenstoß mit ihm nicht mehr vermeiden ließ und schon fanden
sich beide auf dem Boden liegend wieder. Sie saß halb auf ihm, als
sich ihrer beider Augen ineinander festbissen. Er konnte seinen Blick
nicht losreißen von dem silbrigen Leuchten in ihren klaren,
strahlenden Augen. Doch als er versuchte eine hilflose Entschuldigung
zu stammeln, war der Zauber gebrochen und das Leuchten erstarb.
Die Bäume waren wieder nur Bäume, der
Mond nicht mehr als ein tägliches Nachtlicht und die Lichtung
verlassen und unberührt. Hätte er nicht immer noch ihr Gewicht auf
seiner Brust gespürt, wäre er sicher gewesen, nur geträumt zu
haben. Doch sie war so real wie er und ihr Herz klopfte nicht weniger
wild als seines. Erschrocken sprang sie auf und versuchte im Dickicht
des Waldes zu verschwinden, doch er rief ihr nach.
„Bleib. Ich tue dir nichts! Man nennt
mich…“
„… Lyreik, den Wanderer.“
Erstaunt sahen sie einander an. Er,
weil sie seinen Namen kannte und sie, weil sie nicht sagen konnte,
woher dieses Wissen kam. Doch es war da gewesen. Der Name hatte auf
ihrer Zunge gelegen und sich ohne ihr Zutun über ihre Lippen die
Freiheit erkämpft. Sie konnte nicht sagen, woher sie die Gewissheit
nahm, aber sie würde den Wanderer begleiten, wohin auch immer seine
Reise gehen mochte.
„Mein Name ist Nyra und ich werde mit
dir gehen.“
Stumm saßen sie in der aufsteigenden
Morgenröte gemeinsam auf dem Felsen und teilten sich, was von seinem
Brot und dem Käse übrig war. Sie hatten kein weiteres Wort
gesprochen, nachdem sie so selbstverständlich seine Gefährtin
geworden war. Es war ihm nicht wichtig, wer sie war oder warum sie
seinen Weg mit ihm gemeinsam gehen wollte. Er würde nicht alleine
sein und das gefiel ihm. Als die Sonne zaghaft durch das Blätterdach
brach, packte er seine Sachen zusammen und sie machten sich gemeinsam
auf den Weg.
[Fortsetzung folgt]