Donnerstag, 3. März 2016

[Fragment] In der Stunde vor der Stille

In der Stunde vor der Stille, das Gras noch feucht vom Tau, der zärtlich die Halme benetzt, stieg Nebel langsam aus dem Boden. Seine blassen Schleier sammelten sich in der Senke des Tales und verhüllten schützend das Land. Dunkle Nebelbänke zogen schleichend zwischen die Bäume des nahen Waldes und wurden dichter und dichter, noch bevor die Dämmerung das Licht der Sonne ankündigte. In der Stunde vor der Stille legte sich ein Nebel mit seiner düsteren Kälte auch über sein Herz und er schwieg. 

Im Angesicht der grauen Nebelbänke im weiten Tal zu seinen Füßen nahm ihm die friedvolle Stille jedes Wort, das sich in seinem Kopf staute und die Gedanken starben, bevor er ihnen mit seinen Lippen die Freiheit schenken konnte. Grabesstille über einem Land, das noch schlief. Grabesstille in seinem zerrissen Herzen.

Stumm wanderte sein Blick in die Ferne und über den Nebel, der alles verschluckte, als würde die Welt beginnen, sich an ihren Rändern in das Nichts aufzulösen. Verwischte Konturen, körperlose Schatten, mehr war nicht zu sehen, von dem was vielleicht vor ihm liegen mochte. 
Die ersten Strahlen der Sonne, die über den Horizont reichten, begannen die Dunkelheit in seinem Herzen auszulöschen und wärmten seine sorgenvolle Seele. Sie liebkosten zärtlich sein Gesicht und gaben ihm den nötigen Mut für den ersten Schritt auf seiner Reise in das Unvorhersehbare, das Ungewisse. Der Nebel begann sich zu lichten und gab ihm den Weg frei, vor dem er sich vor wenigen Minuten noch gefürchtet hatte. 

Als er begann, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen, überraschte ihn, wie leicht es ihm fiel und wie selbstverständlich es sich in seinem Herzen anfühlte. Das Land glitt unter seinen Schritten dahin. Die Erdkugel drehte sich unter seinen Füßen hindurch und er fühlte sich leicht. Mit jedem Schritt stieg seine Zuversicht, das Ziel auch zu erreichen, von dem er noch nicht einmal wusste, was es war oder wo er danach zu suchen hatte. 

Er konnte nicht anders, als er durch die grünen Auen wanderte und begann ein Lied zu pfeifen. Die Welt schien ihm freundlich gesinnt zu sein. Er genoss das flirren der Strahlen zwischen dem jungen Grün der Bäume, lauschte auf das Lied des Windes in ihren Kronen. Das Rascheln der Blätter, das Gezwitscher der vielen buntgefiederten Vögel und das Plätschern des kleinen Baches an dessen Ufer er entlang schritt. All das vereinte sich zum Gesang des Waldes, in den er mit seinem eigenen Lied einstimmte. 

Wie hatte sein Herz nur so schwer werden können, wenn er diese wunderbare Welt rings um sich betrachtete! Lag dem nicht ein Zauber inne, den keine noch so dunkle Macht besiegen konnte? Er würde sich bald einen Platz für eine kleine Rast suchen müssen. Schon seit einiger Zeit knurrte sein Magen und murrte über jeden Schritt den er machte. Vielleicht waren es auch einfach seine Gedanken, die bereits seit geraumer Weile um das frische Brot und den Laib Käse in seiner Tasche kreisten. Doch er wollte so weit wie möglich kommen, bevor die Nacht hereinbrach.

Also erlaubte er sich nur eine kurze Rast auf einem dunkelgrauen Felsbrocken, der auf einer kleinen Lichtung lag, als hätte ihn ein Riese auf seiner Wanderung einfach achtlos fallen lassen. Der Stein hatte die Wärme der Sonne eingefangen und hütete sie wie einen kostbaren Schatz. Angenehm warm fühlte sich der Sitz an, den er sich da ausgesucht hatte. Ein Schluck Wasser aus dem klaren Quell, dem er schon seit dem Morgen gefolgt war, ein Stück des deftigen Brotes und eine kleine Scheibe von dem Käse seines Lehrmeisters, dann machte er sich wieder auf den Weg.

Seinen Magen hatte er zufrieden gestellt und fühlte sich für seinen weiteren Weg gestärkt. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst erreicht gehabt, als er sich zur Pause auf den Stein setzte und der Abend streckte seine Hand schon nach den Tiefen des Waldes aus. Er legte noch ein Stück seines Weges zurück, dann begann er nach einem Unterschlupf für die Nacht Ausschau zu halten. 

Die Dämmerung sickerte langsam zwischen die Blätter der Bäume, als er am Rande einer Lichtung ein Lager für die Nacht fand. Zwischen zwei großen Felsbrocken baute er sich mit Zweigen und Laub ein trockenes Lager und bettete sich zur Nacht. Rechtschaffen müde, wie er nach seiner langen Wanderung war, fiel er sofort in einen tiefen Schlaf. Traumlos und erholsam, bis ihn etwas weckte, von dem er nie ein Zeuge hätte werden sollen.

* * *

Sie trafen sich auf einer kleinen Lichtung, ein kreisrunder Platz inmitten des dichten Waldes, nur mit niedrigem Gras und Moos bewachsen. Sanft fiel das Mondlicht auf das satte Grün des weichen Bodens und die beiden riesigen Felsbrocken, die zwischen den Stämmen am Rande der Wiese lagen. Nur das düstere Dickicht der umstehenden Bäume konnte auch der silberne Mond nicht erhellen.
Als sie zögernd und doch ohne Widerstand die Lichtung unter dem wolkenlosen Sternenhimmel betrat, verstummte das leise Rascheln der Blätter zu einer andächtigen Stille. Aus dem Wald traten andere wie sie. Frauen jeden Alters, doch alle mit dem unwiderstehlichen Drang diesen Platz aufzusuchen. Wortlos bildeten sie einen Kreis.

Nyra schloss die Augen und es war als ob die Stille zu ihr spräche. Ungehörte Worte, die sich in ihrem Kopf aus tonlosen Silben formten. Wie in Trance begann sie die Worte mitzusprechen, die ihr die Stille in den Kopf gepflanzt hatte. Erst still, nur mit den Lippen, dann immer lauter. Und ihre Schwestern taten es ihr gleich...

"Wir sind die Töchter der Nacht, die Kinder des Mondes, nur er gibt uns Kraft."

Wie ein magisches Mantra wiederholten sich die Worte immer wieder und wieder, steigerten sich in einem wilden Chor. Nyra fühlte sich eins mit den anderen, fühlte sich in die Luft gehoben, leicht und zugleich völlig geborgen und sicher. Sie war Teil eines Ganzen. Eine Erkenntnis, die sie zutiefst erschütterte und gleichzeitig unendlich glücklich machte, auch wenn sie nicht absehen konnte, welche Folgen das für ihr Leben haben würde.

Sie spürte das feuchte warme Gras unter ihren Füßen, öffnete die Augen und sah, dass die Bäume am Rande der Lichtung mit Ihren Stämmen und Ästen Säulen und Bögen bildeten, eine Kathedrale aus Holz und Laub. Ihre Schwestern richteten ihre erstaunten Blicke genauso zum Himmel, wie Nyra es tat. Ein sanfter, warmer Strahl reinen Mondlichtes erhellte den Tempel und ließ ihre Gesichter aufleuchten. Nyra fühlte eine neue, unbekannte Kraft in sich und begriff, was es bedeutete, eine Tochter der Nacht zu sein.

* * *

Die engelhaften Stimmen hatten sich in seinen Schlaf gestohlen, ihn sanft geweckt und ihm das Gefühl gegeben, dass dort etwas Besonderes geschah und er keine Angst zu haben brauchte. Vorsichtig öffnete er die Augen und was er sah, raubte ihm den Atem. Der Wald lebte, er veränderte sich. Äste wuchsen zu einer Halle zusammen und bildeten ein schützendes Dach über der Gruppe elfenhafter Wesen, die in Verzückung im fahlen Licht des Mondes sangen und tanzten. Die Töchter der Nacht. Er konnte sich daran erinnern in einem alten Buch davon gelesen zu haben. 

Tief in seinen eigenen Gedanken verwoben und mit den vergilbten Seiten eines staubigen, halb zerfallenen Folianten vor seinen inneren Augen, stolperte er in Richtung der Baumkathedrale. Zu spät bemerkte er, dass eines dieser zauberhaften Wesen in seine Richtung lief. Er war gefangen vom Anblick ihres in Vollzücken leuchtenden Gesichtes, dass er völlig vergaß, dass er zu dieser Veranstaltung nicht eingeladen war. 

Auch sie nahm ihn erst wahr, als sich ein Zusammenstoß mit ihm nicht mehr vermeiden ließ und schon fanden sich beide auf dem Boden liegend wieder. Sie saß halb auf ihm, als sich ihrer beider Augen ineinander festbissen. Er konnte seinen Blick nicht losreißen von dem silbrigen Leuchten in ihren klaren, strahlenden Augen. Doch als er versuchte eine hilflose Entschuldigung zu stammeln, war der Zauber gebrochen und das Leuchten erstarb.

Die Bäume waren wieder nur Bäume, der Mond nicht mehr als ein tägliches Nachtlicht und die Lichtung verlassen und unberührt. Hätte er nicht immer noch ihr Gewicht auf seiner Brust gespürt, wäre er sicher gewesen, nur geträumt zu haben. Doch sie war so real wie er und ihr Herz klopfte nicht weniger wild als seines. Erschrocken sprang sie auf und versuchte im Dickicht des Waldes zu verschwinden, doch er rief ihr nach.

„Bleib. Ich tue dir nichts! Man nennt mich…“

„… Lyreik, den Wanderer.“

Erstaunt sahen sie einander an. Er, weil sie seinen Namen kannte und sie, weil sie nicht sagen konnte, woher dieses Wissen kam. Doch es war da gewesen. Der Name hatte auf ihrer Zunge gelegen und sich ohne ihr Zutun über ihre Lippen die Freiheit erkämpft. Sie konnte nicht sagen, woher sie die Gewissheit nahm, aber sie würde den Wanderer begleiten, wohin auch immer seine Reise gehen mochte.

„Mein Name ist Nyra und ich werde mit dir gehen.“

Stumm saßen sie in der aufsteigenden Morgenröte gemeinsam auf dem Felsen und teilten sich, was von seinem Brot und dem Käse übrig war. Sie hatten kein weiteres Wort gesprochen, nachdem sie so selbstverständlich seine Gefährtin geworden war. Es war ihm nicht wichtig, wer sie war oder warum sie seinen Weg mit ihm gemeinsam gehen wollte. Er würde nicht alleine sein und das gefiel ihm. Als die Sonne zaghaft durch das Blätterdach brach, packte er seine Sachen zusammen und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.



[Fortsetzung folgt]