Sonntag, 10. April 2016

Zwischen den Welten - ein etwas anderer Krimi (Teil 3)

Der Kommissar entschied sich dazu, die Treppe zu nehmen, um die Nachbarn zu befragen. Auf der obersten Etage gab es nur die Wohnung des Opfers und einen Maschinenraum, der wohl zum Fahrstuhl gehören musste. Wenn die anderen Wohnungen auch nur annähernd so ausgestattet waren, wie das Penthouse aus dem er gerade gekommen war, dann waren die Bewohner sicher nicht die üblichen Verdächtigen.

Die Treppe war sauber, aber man sah ihr an, dass sie nur selten benutzt wurde. Wenn der schrullige Hauswart immer mit im Aufzug fahren musste, um ihn zu bedienen, musste man davon ausgehen, dass der Täter dieses Treppenhaus benutzt hatte, um ungesehen in die oberste Etage zu kommen. Oder zumindest das Haus nach der Tat wieder zu verlassen. Er machte sich eine Notiz, dass er das Hausfaktotum unbedingt danach fragen musste, ob und vor allem wann das Opfer einen Besucher hatte. Immerhin konnte das der Mörder sein.

Ich hatte meinen Kommissar gerade eingeholt, als er bei meinen Lieblingsnachbarn klingelte. Es war die lautstarke Dame, die ihm die Türe öffnete und ihr Outfit hätte nicht passender sein können. Ein fast durchsichtiges Negligé in Blutrot. So viel will ich gar nicht sehen. Scheinbar leben die beiden wirklich nur irgendwo zwischen Bett und Küche.

Ich schwebte an ihr vorbei in die Wohnung um mich ein bisschen umzusehen, viel wird sie dem Kommissar eh nicht zu erzählen haben. Wer den ganzen Tag nur auf dem Rücken liegt, weiß allenfalls, wie es um die Beschaffenheit der Decke und der Matratze steht, aber nicht, was die Nachbarn so treiben. Was die beiden trieben, wusste wahrscheinlich das ganze Haus...

Peter Zufall hielt ihr seine Dienstmarke entgegen und versuchte, nicht zu genau hinzusehen, was bei der Durchsichtigkeit des knappen Stoffes einer Herausforderung gleichkam. Noch bevor sie das erste Mal den Mund öffnete, hatte sich der Kommissar schon ein erstes Urteil gebildet: die nicht ganz billige Spielgefährtin eines reichen Mannes. Und als sie das erste mal sprach, sah er sich bestätigt.
„Mein Name ist Zufall, ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen zu ihrem Nachbarn, Herrn Charon stellen.“
„Äh, wer ist'n das?“
„Der Herr, der über ihnen wohnt.“
„Den kennisch nich.“
„Und ihr... äh...
Sie drehte sich rum und brüllte in den Flur.
„Martin, komm mal her, hier ist ein Bulle der dich was fragen will!“
Es dauerte eine Weile, bis Martin sich etwas übergezogen hatte und zur Türe geeilt kam. Zum Schließen seines Bademantels hatte die Zeit allerdings ganz offensichtlich nicht gereicht und seine Unterwäsche hatte er verkehrt herum angezogen.
„Äh, ja bitte?“
„Kommissar Zufall, ich hätte da ein paar Fragen zu ihrem Nachbarn aus der obersten Etage.“
„Herr Charon? Was ist mit ihm?“
„Er ist tot. Können Sie mit etwas zu seinen Kontakten sagen? Bekam er öfter Besuch?“
„Wir haben ihn so gut wie nie zu Gesicht bekommen, Herr Charon war ein sehr zurückgezogen lebender Mensch.“
Die junge Dame begann kichernd an der Unterhose ihres Sugardaddys zu spielen, während der sich alle Mühe gab, nicht zu viel Freude darüber zu zeigen. Peter Zufall verkniff sich ein Grinsen.
„Hatte er zu irgendjemandem hier im Haus engeren Kontakt?“
„Ich glaube nicht. Wenn jemand etwas mehr über ihn weiß, dann vielleicht der Verwalter. Eigentlich ist er immer bestens über alles hier im Hause informiert.“
Der Kommissar bedankte sich für die Auskünfte und verabschiedete sich von den beiden, die es sehr eilig zu haben schienen, wieder in ihr Bett zu kommen, oder wo auch immer sonst sie ihre Spielwiese aufgeschlagen hatten.

Meine Güte, die beiden konnten ja nicht einmal während der Befragung die Finger voneinander lassen. Und sie hatte ihn schon aus seiner Unterhose geschält, bevor sie den Flur hinter sich gelassen hatten. Es war nicht zu übersehen, dass er schon wieder zu neuen Schandtaten bereit war und weil ich mir das nun wirklich nicht antun wollte, war ich dem Kommissar schon eine Etage vorausgeeilt. Noch so ein Vorteil davon tot zu sein, man kann Etagen einfach schwebend wechseln.

Unter den beiden nymphoman veranlagten Bettgymnasten wohnt ein älteres Ehepaar, die ganz offensichtlich bereits einen gewissen Grad der Taubheit erreicht haben, denn es dauerte eine ganze Weile, bis sie auf das wiederholte Klingeln des Ermittlers reagierten. Ihn hatte ich noch nie zuvor gesehen, aber ihr war ich ein oder zweimal in der Halle begegnet, während wir auf den Fahrstuhl warteten. Eine süße kleine, leicht vergessliche Dame.

Langsam öffnete sie die Türe.
„Ja bitte?“
„Guten Tag, Kommissar Zufall, Mordkommission.“
„Wer bitte?“
Er versuchte es etwas lauter.
„Kommissar Zufall von der Mordkommission. Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.“
„Polizei? Meine Güte, was ist denn geschehen?“
„Einer Ihrer Nachbarn wurde tot aufgefunden, der Herr aus dem obersten Stock.“
„Oh, das tut mir leid, er war immer sehr freundlich, wenn wir uns im Fahrstuhl getroffen haben. Und er ist tot sagen Sie?“
„Ja, er wurde ermordet aufgefunden.“
„Ermordet? Wie schrecklich.“
Sie sah ängstlich in den Flur hinaus.
„Hier im Haus?“
„Ich befürchte ja. Können Sie mir irgendetwas über Herrn Charon sagen?“
„Nein, ich... also wir kannten ihn ja kaum. Ab und zu habe ich ihn unten in der Halle gesehen oder bin mit ihm im Fahrstuhl nach oben gefahren, aber das war auch schon alles.“
„Danke für die Auskunft, einen schönen Abend noch.“
Die Türe wurde sofort geschlossen und er konnte hören, wie der Schlüssel sich zweimal im Schloss drehte und wie ein schwerer Riegel vorgeschoben wurde. Es tat ihm ein bisschen leid, dass er der älteren Dame Angst gemacht hatte, aber er hätte sie ja schlecht belügen können.

Die Befragung der anderen Bewohner des Hauses hatte auch nichts ergeben. Keiner kannte den Mieter aus der obersten Etage genauer, einige wussten nicht mal, wie er heißt. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es Zeit würde, seine Kollegin abzuholen. Dann würde er den Verwalter morgen noch einmal sprechen. Sicher würde Cornelia auch dabei sein wollen. Doch jetzt galt es erst mal sie ein bisschen besser kennen zu lernen. Noch am Morgen hätte er nicht gedacht, dass er sich so schnell mit ihr verstehen würde. Irgendwie freute er sich auf den ruhigen Abend mit ihr. Jetzt wollte er noch schnell nach Hause, kurz unter die Dusche und etwas anderes anziehen, bevor er sie im Hotel abholen würde.

Ich sparte mir, den Kommissar zu begleiten. Ich war noch immer zu sehr fasziniert von meinen Nachbarn. Interessant, wie man als Leiche gleich die Leichen im Keller der anderen findet. Bei einigen der Hausbewohner hatte sich das Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte schlagartig geändert. Und ich hatte wirklich gedacht ich sei der einzige in diesem Haus mit dem ein oder anderen Geheimnis. Und mein Mörder war wohl das größte davon. Immerhin war er nicht zum ersten Mal bei mit gewesen, als er mich ins Jenseits befördert hatte.

Cornelia Röbel stand unschlüssig vor ihrem Schrank. Das Zimmer war wirklich ruhig und die Dusche hatte ihr auch gut getan, doch jetzt ärgerte sie sich ein bisschen, dass sie ihren dunklen Rock und die sexy Bluse doch nicht eingepackt hatte. Sie machte also das beste aus dem, was ihr Koffer enthalten hatte und war gerade fertig mit dem Anziehen, als es an ihrer Zimmertüre klopfte. Sie warf noch einen kurzen prüfenden Blick in den Spiegel, bevor sie einigermaßen zufrieden mit ihrem Aussehen ihrem neuen Kollegen die Türe öffnete.
„Hallo Peter. Na, wo wollen wir hin?“
„Na, deinem Outfit nach erwartest du ein bisschen mehr als die Kneipe ums Eck.“
Er grinste und bewunderte wie sie ihre Vorzüge reizvoll in Szene gesetzt hatte.
„Keine Sorge, das hatte ich auch gar nicht vor, ich will dir ein bisschen die Stadt zeigen, immerhin wirst du ja eine ganze Weile hier bleiben.“
Sie lächelte ihn an und nahm ihre Handtasche von der kleinen Anrichte im Flur, bevor sie sich bei ihm einhakte und die Türe hinter sich ins Schloss zog.
„Also? Wo geht es hin?“
„Lass dich überraschen.“
„Haben die Befragungen noch etwas ergeben?“
„Nichts neues. Und du kannst beruhigt sein, die einzig interessante Befragung steht noch aus. Dazu wollte ich dich morgen mit zum Hausverwalter nehmen, von den anderen Bewohnern wusste niemand etwas über das Privatleben unseres Opfers.“
Sie stieg zu ihm ins Auto und schnallte sich an, immerhin hatte sie gesehen, welchen Fahrstil ihr Kollege üblicherweise an den Tag legte, doch heute Abend fuhr er gesittet und hielt sich an alle Verkehrsregeln.
„Ich habe mir die Akte vorhin einmal genauer angesehen. Viele Informationen hast du ja noch nicht, aber eines ist mir doch aufgefallen: warum dieser Fundort? Das passt so gar nicht zu der Wohnung. Und wie hat er die Leiche aus der obersten Etage nach unten gebracht? Der Fahrstuhl kam doch sicher nicht in frage oder? Und 6 Etagen über das Treppenhaus... dann hätte man sicher irgendwelche Spuren finden müssen.“
„Genau. Der Fahrstuhl. Das ist irgendwie der Schlüssel zu diesem Fall. Unter anderem deshalb will ich morgen unbedingt noch einmal etwas länger mit dem Verwalter sprechen. Aber jetzt genug von der Arbeit, heute Abend nichts berufliches mehr. Heute möchte ich dich einfach etwas besser kennen lernen.“
Sie sah verlegen aus dem Fenster auf die vorbeigleitenden Fassaden und versuchte angestrengt nicht verlegen zu wirken.
Der Abend gestaltete sich doch noch recht locker und die beiden Ermittler fanden sehr schnell heraus, dass sie vieles miteinander gemeinsam hatten. Der Abend endete in einer sehr exklusiven Bar über den Dächern der Stadt. Nicht gerade billig, hier einen Drink einzunehmen, aber die Aussicht machte das Geld auf jeden Fall wieder wett.

Kurz vor 23 Uhr setzte er sie wieder vor dem Hotel ab und machte sich auf den Weg in seine Wohnung. Am nächsten Morgen stand ein wichtiger Termin für dieses Fall an und da wollte er unbedingt fit sein.

Während die beiden sich amüsierten, hatte ich mich auf die Suche nach meinem Mörder gemacht. Ihn zu finden war nicht schwer und ihm zu folgen noch weniger. Dass mir das hier im Reich der Toten leicht fällt, habe ich ja schon erzählt. Als ich ihn gefunden hatte, war ich ihm eine Weile gefolgt und dabei war er plötzlich stehen geblieben und hatte mich wissend lächelnd angesehen. Das hatte mich ein bisschen verunsichert, denn bisher hatte mich noch niemand sehen können. Erst als ich mich umdrehte, konnte ich sehen, dass sein Blick nicht mir galt. Er war schon auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.

Da Cornelia gleich um die Ecke wohnte, hatten sie sich vor dem Hotel verabredet, um dann gemeinsam den Hausverwalter zu ihrem Opfer und seinen Gewohnheiten zu befragen. Beide erhofften sich davon ein paar neue Ermittlungsansätze. Allerdings liefen Sie als erstes wieder dem Hausmeister über den Weg.
„Mister Charon ist tot?“
„Ja. Er wurde tot im Seepark gefunden.“
„Traurig. Er wohnte schon lange hier.“
Cornelia kam eine Idee, vielleicht wusste der Hausmeister zumindest die Antwort auf eine ihrer Fragen.
„Sagen Sie mal, gibt es noch eine andere Möglichkeit in die oberen Etagen zu kommen, als der antike Fahrstuhl in der Halle und das Treppenhaus?“
„Sicher! Hinter den alten Gesindewohnungen gibt es einen Lastenaufzug. Aber der wird eigentlich nur benutzt, wenn einer der Mieter auszieht. Das letzte Mal ist sicher schon 2 Jahre her.“
„Danke für die Information, das könnte noch wichtig werden. Haben Sie einen Schlüssel zu dem Aufzug?“
„Nein, den hat der Verwalter unter Verschluss. Der Aufzugschacht ist von den Wohnungen aus nicht verriegelt, deshalb darf den Aufzug ohne Aufsicht niemand benutzen!“
Peter sah seine Kollegin erstaunt an. Sie hatte mit ihrer charmanten Art in wenigen Sekunden mehr Neuigkeiten in Erfahrung gebracht als er mit seinen Befragungen der Nachbarn am gestrigen Nachmittag. Er wartete bis sie in der Halle standen, bevor er sie darauf ansprach.
„Wie kamst du auf die Idee mit dem zweiten Lift?“
„Es musste eine dritte Lösung geben, denn der Fahrstuhl und die Treppe hatten wir doch schon ausgeschlossen, war einfach mal eine Frage ins Blaue.“
Sie klopften an der Türe des Hausverwalters und wurden nach einem kurzen Gespräch zu ihm hereingebeten. Doch nicht in seine Wohnung, sondern in einen Raum direkt hinter der Türe, der nach einem Büro aussah. Ordentlich aufgereihte Ordner in den Regalen und ein neuer PC auf dem Schreibtisch, was keiner von beiden erwartet hätte.
„Nehmen Sie doch Platz.“
„Danke.“
Peter Zufall übernahm die Befragung, während seine Partnerin den Befragten erst einmal nur beobachtete.
„Der Hausmeister sagte uns, dass es noch einen zweiten Aufzug gibt.“
„Das ist richtig, der alte Lastenaufzug, damit würden früher die Dienstbotentrakte der Wohnungen mit Waren beliefert. Heute nutzen wir ihn nur noch für den Möbeltransport bei Ein- und Auszügen.“
„Ist der Zugang zum Lastenaufzug für alle hier zugänglich?“
„Nein, der Zugang ist verschlossen. Er führt auf den Hinterhof und ist doppelt gesichert. Die Türe hat einen schweren Riegel und für das Schloss braucht man einen Spezialschlüssel.“
Bei seinen letzten Worten öffnete er eine Schublade des Schreibtisches und holte einen großen Schlüsselbund hervor. Zielstrebig griff er nach einem eigenartig geformten Schlüssel.
„Das ist der einzige Schlüsse für den Fahrstuhlschacht.“
„Hatte Herr Charon in letzter Zeit irgendwelchen Besuch? Jemand, der vielleicht öfter hier war?“
„Ich führe über so etwas nicht Buch.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“
„Nein, nicht dass ich wüsste. Mister Charon war immer sehr zurückhaltend und er war der einzige Mieter, der den Fahrstuhl auch selbst bedienen konnte. Ob er dabei immer alleine in seine Etage gefahren ist, kann ich Ihnen aber nicht sagen.“
Nun versuchte Cornelia ihr Glück mit dem sehr zurückhaltenden Mann.
„Wie war Mister Charon so?“
„Freundlich.“
„Gab es irgendwelche Besonderheiten?“
„Was meinen Sie?“
„Nun, irgendetwas, was Ihnen aufgefallen wäre, vielleicht etwas, was ihn von den anderen Mietern unterschied?“
„Mister Charon war ein sehr zurückhaltender Mensch, der immer höflich und freundlich war. Es gab keine Skandale, niemand hat sich je über ihn beschwert, was man von anderen Mietern leider nicht immer sagen kann.“
„Gibt es Familie, Angehörige von Herrn Charon?“
„Soweit mir bekannt ist nicht.“
„Hatte er eine Beziehung?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen.“
Die Befragung brachte keine neuen Erkenntnisse, aber eines gab es jetzt noch zu tun. Und Peter Zufall kam sofort zur Sache.
„Wir würden uns gerne den Lastenaufzug einmal genauer ansehen. Möglicherweise muss die KTU da auch noch einmal dran.“
„Warum?“
„Mister Charon wurde in seiner Wohnung ermordet und seine Leiche aus dem Haus geschafft, ohne, dass es jemandem aufgefallen wäre. Über das Treppenhaus oder den Fahrstuhl in der Halle wäre das wohl nicht möglich.“

Nachdenklich begleitete der Verwalter die beiden Kommissare durch den Hinterhof zur Aufzugtüre, die tatsächlich gut verschlossen war. Nichts deutete darauf hin, dass das in letzter Zeit einmal anders gewesen sein sollte. Umständlich schloss er das Tor auf und ließ die beiden Ermittler in den Fahrstuhl steigen. Der Fahrstuhlkasten war zu zwei Seiten hin offen und hatte keine Wände. Im Inneren gab es ein kleines Tastenfeld, um die Etagen auszuwählen und als Cornelia auf den Knopf der sechsten Etage drückte, fuhr der Aufzug sanft und fast geräuschlos den Schacht hinauf.

Oben angekommen, öffnete der Verwalter eine Türe, die Peter Zufall von innen für die Türe einer Vorratskammer gehalten hatte. Sie lag genau zwischen der kleinen Küche und den angrenzenden Personalzimmern.
„Sagen Sie, hat jemand hier im Haus noch Angestellte? Zimmermädchen, Koch oder Butler?“
„Nein, die Zeiten sind leider längst vorbei. Wir haben eine Reinigungsfirma, die die gemeinschaftlich genutzten Räume, die Flure und Treppen putzt, aber hier lebendes Personal hat heute keiner unserer Mieter mehr.“
„Nun, dann werde ich nachher die KTU noch einmal vorbeischicken müssen, halten Sie bitte den Fahrstuhl abgeschlossen, bis die Kollegen hier alles gesichert haben, was sich vielleicht an Spuren finden lässt.“
„Es kann niemand diesen Aufzug benutzt haben, Herr Kommissar. Ohne meinen Schlüssel kommt niemand hier hin.“
„Es gibt keinen Ersatzschlüssel? Ganz sicher?“
„Es wäre mir neu, wenn es noch einen zweiten Schlüssel gäbe und diesen hier hüte ich wie meinen eigenen Augapfel. Er liegt immer in der verschlossenen Schublade meines Schreibtisches. Und auch das Büro ist sorgsam verschlossen, wenn ich es nicht benutze.“
Die beiden glaubten ihm sofort. Er war noch von der alten Schule, die besonders ordentlich und fest in ihren Arbeitsabläufen waren. Und als Mörder konnte sich das Ermittlerteam diesen Mann auch beim besten Willen nicht vorstellen.

Als sie wieder nach unten gefahren waren, schauten die beiden dem Hausverwalter noch beim Abschließen der Türe zu und verabschiedeten sich dann noch einmal mit dem Hinweis, die Türe verschlossen zu lassen, bis die Kollegen der Kriminaltechnischen Untersuchung kamen, um Beweise zu sichern, falls sich dort welche finden ließen.

Sie verließen das Gebäude durch den Haupteingang und wanderten um das Haus herum, um sich den Zugang zum Hinterhof genauer anzusehen. Im Nachbarhaus war ein großes unverschlossenes Tor, das auf den Hof führte, der sich hinter insgesamt sechs Häusern erstreckte und von einigen der Mieter wohl als Parkplatz genutzt wurde, aber auch zwei Lieferwagen waren dort geparkt. Einer davon wurde gerade mit Kisten beladen.
„Da drüben, Peter.“
„Ja, ich sehe es. Scheint hier Alltag zu sein, dass etwas aus- oder eingeladen wird. Das dürfe es unserem Mörder leicht gemacht haben. Aus dem Fahrstuhl heraus und direkt in einen Wagen. Und dann richtig Seepark.“
„Tja, das Wie ist also inzwischen ziemlich klar, was uns noch fehlt ist das Wer und das Warum.“
Peter Zufall rief Dirk Brünn an und bestellte ihn zur Überprüfung des Lastenaufzuges noch einmal an den Tatort.

Dieser Moment in dem ich dachte, er könne mich sehen, hatte mich aus dem Konzept gebracht. Dabei konnte er mir doch jetzt nicht mehr gefährlich werden. Ich meine, er hatte mich umgebracht, was wollte er also mehr tun als das? Ich erholte mich schnell von dem Schock und folgte ihm durch die Nacht. Vielleicht konnte ich verhindern, dass er ein neues Opfer findet. Zumindest wollte ich es ihm so schwer wie möglich machen. Allerdings hatte ich meine Zeit an ihn verschwendet, denn ganz offensichtlich hatte er das richtige Opfer noch nicht gefunden und war an anderen Menschen denen er begegnete nicht interessiert.

Erst in den frühen Morgenstunden hatte er sich in seine derzeitige Wohnung zurückgezogen und so kannte ich zumindest seinen Unterschlupf, vielleicht würde das noch nützlich sein, doch vorerst schien er sich erst einmal ausruhen zu wollen. Als Toter braucht man keinen Schlaf, also machte ich mich als nächstes auf die Suche nach meinen beiden Polizisten und fand sie im Hinterhof meines Wohnhauses. Sie hatten also inzwischen herausgefunden wie meine Leiche aus der Wohnung geschafft worden war. Das beruhigte mich, denn damit waren wir schon einen ganzen Schritt weiter auf dem Weg der Aufklärung meines Todes. Ich folgte den beiden aufs Präsidium und belauschte neugierig ihre Gespräche zu meiner Akte.

Peter und Cornelia waren ins Büro gefahren, wo sie auf ihren Schreibtischen die ersten Ergebnisse der Forensiker vorfanden. Allerdings war die Masse an Beweismaterial einfach zu groß, um schon einen abschließenden Bericht zum Tatort zu haben. Doch die beiden waren dankbar für jeden noch so keinen Ermittlungsansatz den sie in den Akten vielleicht finden würden.
„Das sieht nach einer sehr brutalen Art aus einen Menschen zu töten.“
„Ja, aber das hatte ich nach dem Fund der Leiche schon gedacht. So viele Verletzungen hab ich noch nie an einer einzigen Leiche gesehen.“
„Laut KTU gibt es keinerlei Einbruchsspuren, was bedeutet, dass das Opfer seinen Mörder kannte. Hat er ihn selbst mit in seine Wohnung gebracht?“
„Davon muss man ausgehen. Obwohl... der Lastenaufzug wäre auch eine Möglichkeit ungesehen in die Wohnung zu gelangen.“
„Wenn die Türe im Hinterhof nicht wäre.“
„Da die Leiche aber doch nur so aus der Wohnung geschafft worden sein kann, muss der Täter einen Schlüssel haben. Vielleicht gibt es eben doch einen Zweitschlüssel für den Aufzugschacht.“
„Noch haben wie keinen Beweis, dass unsere Theorie stimmt. Warten wir mal ab, was Dirk nachher zu den Spuren zu sagen hat, wenn es denn überhaupt welche gibt.“
Cornelia beugte sich über die Akte und las jedes Wort noch einmal. Dabei versuchte sie sich die Tat vorzustellen, die zu den Spuren geführt hatte. Die Verstümmelungen, die Schnitte, das viele Blut. Der Tatort und der Fundort. Das alles musste doch einen Grund haben.
„Warum hat er die Leiche im Seepark abgelegt, aber den Tatort unberührt gelassen? Das macht doch keinen Sinn. Dann hätte er doch die Leiche auch einfach liegen lassen können. So schnell hätte die doch niemand gefunden.“
„Vielleicht doch. Der Geruch der Verwesung wäre vielleicht den Nachbarn aufgefallen.“
„Aber die Leiche war doch nicht vergraben oder? Sie lag doch einfach nur im Unterholz des Parks oder?“
„Ja, warum?“
„Das ergibt alles keinen Sinn. Ein ungereinigter Tatort, eine weggeschaffte Leiche, die aber dann nicht einmal wirklich versteckt wird. Wenn ich nicht entdeckt werden will, dann lasse ich die Leiche verschwinden und reinige den Tatort. Hätte der Täter das getan, würden wir nicht ermitteln, denn es gäbe keinen Fall. Und selbst wenn irgendwann jemand das Opfer als vermisst gemeldet hätte, ohne die Leiche wären wir doch aufgeschmissen...“
„Du hast Recht. Das ergibt alles keinen wirklichen Sinn.“

Als ob ein tieferer Sinn hinter meinem Tod stecken würde. Ich bin tot, weil jemand seinen Spaß daran hatte. Er hatte kein anderes Motiv als einfach jemanden sterben zu sehen. Aber wie kann ich das meinen beiden Kriminalisten klar machen? Vielleicht hätte ich die Sache mit dem Besessen sein inzwischen doch einmal ein bisschen über sollen. Es war zum Verzweifeln, den beiden dabei zuzusehen, wie sie keinen Schritt weiterkamen und gleichzeitig zu wissen, dass mein Mörder schon wieder nach einem neuen Opfer suchte.

Cornelia Röbel machte sich gerade Notizen, als ihr eine Idee kam.
„Versuchen wir es mal umgekehrt, Peter!“
„Umgekehrt?“
„Ja, schließen wir aus, was auf keinen Fall infrage kommt, vielleicht bringt uns das was übrig bleibt auf eine heiße Spur.“
„Gut. Raubmord lässt sich ausschließen. Die Wohnung war voller Kunstwerke und teurer Elektrogeräte und es lag ein ganzes Bündel Geldscheine in seiner Kommode. Wenn es um Raub gegangen wäre, dann wäre nichts davon noch an seinem Platz.“
„Es gibt keinerlei Hinweis auf eine persönliche Beziehung, also können wir einen Beziehungsmord auch ausschließen. Keine Rache, keine verschmähte Liebe, kein Scheidungskrieg, nichts greifbares.“
„Stop! Rache würde ich erst einmal nicht ausschließen wollen. Alles an diesem Tatort schreit geradezu, dass Hass und Rache eine Rolle spielen könnten.“
„Ich kann in seinen Unterlagen nicht den geringsten Hinweis darauf finden, dass er irgendwelche Feinde hatte.“
„Dazu könne wir wahrscheinlich nichts sagen. Jedenfalls noch nicht. Ich glaube, wir wissen einfach zu wenig über Mister Charon, um das ausschließen zu können.“
„Ritualmord?“
„Keine der üblichen Symbole oder Blutschmierereien an den Wänden, keine Pentagramme, Voodoo oder andere magische Zeichen in den Räumen oder an der Leiche. Selbst die Verletzungen konnte unser Forensiker Dirk nicht in irgendeinen Zusammenhang mit etwas Okkultem bringen. Ich glaube das ist eine Sackgasse.“
„Also Ritualmord, Beziehungstat und Raum schließen wir erst einmal aus?“
„Was bleibt dann?“
„Ich sehe da einfach kein Motiv, aber es muss eins geben. Dieser Mord war so brutal, es muss etwas persönliches sein zwischen dem Opfer und seinem Mörder.“
Die beiden grübelten verzweifelt über alle möglichen Motive nach, aber ohne weitere Hinweise, irgendwelche Spuren, einen möglichen Verdächtigen hatten sie einfach keinen Ansatzpunkt mehr. Dieser Fall war zum Verzweifeln, selbst die Identität und der Tatort waren einzig einem Zufall zu verdanken. Und das frustrierte den erfahrenen Ermittler und seine Kollegin zunehmend.

Ich hatte sie meine Leiche finden lassen, ihnen geholfen meine Identität herauszufinden und dann den Tatort entdecken zu können, aber jetzt wusste ich einfach nicht weiter. Wie sollte ich ihnen helfen? Ich kannte meinen Mörder, wusste sogar wo er sich gerade aufhielt und dass er ein neues Opfer suchte, aber ich konnte es den beiden nicht einfach sagen. Zum ersten Mal seit meinem Tod hatte ich das Gefühl in der Hölle zu sein.

Der Forensiker Dirk Brünn klopfte an die Türe und brachte den beiden seine neuesten Ergebnisse. Peter Zufall hatte das Gefühl, dass es an seiner neuen Kollegin lag, dass der sonst so an sein eigenes Reich gefesselte Leiter der Forensik aus den Katakomben in den zweiten Stock kam.
„Ich hab hier was für euch. Der Lastenaufzug war gereinigt worden, aber zwischen dem vierten und fünften Stock habe ich Blut an der Wand des Schachts gefunden und noch etwas: ein Haar, dass nicht dem Opfer gehört. Dunkelbraun, männlich, keine Treffer in den Datenbanken.“
„Also suchen wir nach einem dunkelhaarigen Mann. Das halbiert unsere Verdächtigen.“
„Spar dir den Sarkasmus, Peter.“
„Das sagst du so einfach, Dirk, dieser Fall ist zum Verzweifeln.“
„Sag das nicht, Du hast bisher noch jeden deiner Fälle gelöst, außerdem kann ich euch mit noch ein paar anderen Details behilflich sein, was die Tat und den Tatablauf angeht. Das Opfer wurde über mehrere Tage gequält und verletzt, bevor der Täter ihn letztendlich umbrachte. Da ist ein Sadist am Werk, gegen der Marquis de Sade ein Waisenknabe ist. Wenn ihr mich fragt, dann war die Qual seines Opfers der Motiv für diesen Mord.“
Nach dieser Information herrschte Schweigen in dem kleinen Büroraum. Aber schnell war den beiden Kommissaren klar, dass dieses Motiv perfekt in das Bild des Mordes passte. Cornelia war die erste, die ihre Gedanken in Worte fasste.
„Dann hat er vielleicht schon vorher gemordet.“
„Ja. So wie der Tatort aussah ganz sicher.“
„Und so wie die Leiche zugerichtet war erst recht, denn er wusste genau, wie weit die Schnitte gehen durften ohne das Opfer sofort zu töten.“
Wieder war es Cornelia, die einen weiteren wichtigen Punkt zur Sprache brachte.
„Er hat keine Angst erwischt zu werden. Er weiß genau was er tut und wenn ihn nichts mit seinen Opfern verbindet, wird es schwer für uns, ihn zu finden.“
„Wir sollten in den Akten der offenen Fälle nachsehen. Fälle mit besonderer Brutalität und Grausamkeit. Es muss vorher schon Opfer gegeben haben.“
„Dann schmeiß deinen Rechner mal an, Peter, ich mache mich wieder auf in die Forensik.“

Ja, es musste andere wie mich geben. Andere, die er verzaubert hat, die er manipuliert hat. In deren Leben er sich eingeschlichen hat und die am Ende mit dem Tod dafür bezahlen mussten, dass sie ihn in ihr Leben gelassen hatten. Das traf mich wie ein Schlag und machte mir klar, warum ich hier war. Ich hatte eine Aufgabe, ich musste zwei guten Ermittlern dabei helfen ihn zur Strecke zu bringen. Deshalb war ich hier zwischen den Welten.

Sie verbrachten den ganzen Tag vor dem Rechner und in den Archiven und als die Sonne unterging hatten sie vier weitere Fälle gefunden, die in das Muster passten. Einer davon hier, die anderen drei über das ganze Land verteilt. Der älteste bereits zehn Jahre her. Es musste noch andere geben, aber viele kleinere Städte hatten nicht die technischen Mittel, und das Personal all ihre Fälle in das System einzugeben.
„Wir suchen einen Serienmörder.“
„Ja, eindeutig, Cornelia. Ich werde die Unterlagen zu all dieses Fällen anfordern, vielleicht bekommen wir so genug Informationen zusammen, um einen Verdächtigen zu finden. Keiner der Fälle ist aufgeklärt, es gab nie einen Verdächtigen, aber vielleicht gibt es dort auch Spuren, wie unser Haar.“
„Das wäre aber wirklich ein Glückstreffer.“
„Nein, so wenig wie er darauf achtet unentdeckt zu bleiben, muss es einfach andere Hinweise geben!“


FORTSETZUNG FOLGT...


Samstag, 9. April 2016

Zwischen den Welten - ein etwas anderer Krimi (Teil2)

Ich kann mich innerhalb von Sekunden an die richtige Stelle begeben, allerdings muss ich dazu in direkter Linie durch alles hindurch, was im Weg liegt. Wände, Bäume, Autos, Menschen. Das ist nicht wirklich angenehm, weshalb ich meist den Weg nehme, den ich auch im Leben genommen hätte. In diesem Fall aber, werde ich den direkten Weg nehmen müssen. Er ist gerade am anderen Ende der Stadt und naja, ihr kennt das ja mit dem öffentlichen Personennahverkehr... Bis ich damit ankomme, ist er längst wieder woanders.

Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, das Büro in einen einigermaßen vorzeigbaren Zustand zu bringen, aber wirklich ordentlich sah es einfach nicht aus. Und auch die Tatsache, den Schreibtisch seines Partners für einen neuen Kollegen – dazu noch für einen weiblichen – frei zu machen, setze ihm zu, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Er wischte gerade noch einen Kaffeering von der Schreibtischplatte als es an der Türe klopfte.
„Herein!“
Natürlich hatte er den Lebenslauf gelesen und auch das angeheftete Foto gesehen, als Cornelia Röbel allerdings jetzt sein Büro betrat, war er doch überrascht. Eine herbe Schönheit. Das ging ihm durch den Kopf. Und das traf es ziemlich gut.
„Willkommen Frau Röbel. Ich hab Ihnen gerade den Schreibtisch frei gemacht. Zufall, mein Name.“
Er ließ das Tuch, das er in der Hand hatte schnell in der Hosentasche verschwinden und reichte seiner Kollegin die Hand. Sie war durchaus hübsch, allerdings wirkte sie auch ziemlich taff und hart, was allerdings in ihrem Beruf nur von Vorteil war. Freundlich lächelte sie ihn an.
„Kommissar Zufall. Schon eine Legende an der Polizeischule.“
„Alles übertrieben!“
„Ich hoffe nicht. Bin sehr gespannt darauf, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können.“
„Nachdem ich Ihre Aufklärungsquote gesehen habe, muss ich zugeben, dass Sie mein Interesse haben, Komissarin Röbel.“
Irgendwie hatte sie es geschafft, alle seine Vorbehalte und Vorurteile innerhalb dieser wenigen Sekunden völlig über den Haufen geworfen zu haben. Sie warf ihre Jacke auf den Schreibtischstuhl, wanderte rüber zu seinem Schreibtisch und griff nach der Akte darauf.
„Ihr neuer Fall?“
„Ja, aber eine Sackgasse. Ich kann das Opfer nicht identifizieren und es gibt auch keine passende Vermisstenanzeige oder ähnliches.“
„Und der Tatort?“
„Unbekannt. Die Leiche wurde im Seepark gefunden, der Mord muss aber an einer anderen Stelle erfolgt sein.“
Aufmerksam blätterte sie die Akte durch, sah sich die Bilder der Obduktion an.
„Unglaublich brutal. Gibt es nur das eine Opfer?“
Fragend sah er sie an.
„Das sieht mir nicht nach einem einfachen Mord aus. Hat eher etwas Rituelles, diese vielen Wunden...“
„Ja, den Gedanken hatte ich auch schon, aber es gibt bisher nur eine Leiche. Und ich hoffe auch, dass es dabei bleiben wird.“
Er war beeindruckt von ihrer Auffassungsgabe. Insgeheim freute er sich inzwischen doch auf die Zusammenarbeit.
„Haben sie schon eine Unterkunft?“
„Nein, mein Koffer liegt noch im Wagen. Wo kann man denn hier ein einigermaßen bezahlbares Zimmer bekommen?“
„Ich würde das Hotel „Am Hühnertor“ empfehlen. Kann man sich mit unserer Gehaltsklasse gut leisten und die Zimmer sind sauber und ruhig. Wenn sie wollen fahre ich sie schnell hin, damit sie sich ein bisschen frisch machen können. Hier können wir eh nichts viel tun, bis die Laborergebnisse aus der Forensik kommen.“
„Gerne. Ich fahr ihnen hinterher! Was dagegen, wenn ich die Akte mitnehme? Würde sie gerne noch ein bisschen intensiver lesen.“
Sie fuhr mindestens so rasant wie Peter Zufall, allerdings weniger rücksichtslos und so erreichten sie das Hotel in einer der besseren Gegenden der Stadt schon in wenigen Minuten.

Nur noch ein paar Kilometer und ich bin da. Aber irgendwas. Stopp, das hat doch so keinen Sinn. Was macht denn mein Kommissar da? Fährt der etwa... Das kann doch nicht sein, der ist in meinem Viertel unterwegs! Da muss ich hin, vielleicht hab ich so eine Chance ihn auf meine Spur zu bringen. Mitten durch einen Bus hindurch die Richtung gewechselt.

Das ist nicht angenehm, wirklich nicht. Durch Wände gehen, ja, das ist wirklich lustig, oder auch einfach mal durch verschlossene Türen, aber durch Menschen hindurch. Da bekomme ich schon beim Gedanken eine Gänsehaut. Denn als Toter ist man ziemlich kalt und merkt eigentlich nichts davon, aber kommt man mit einem der Lebenden in Berührung, dann fühlt man sich kurz wie schockgefrostet. Nicht angenehm. Stellt euch einfach vor, jemand wirft euch einen Eimer Eiswürfel unter die warme Bettdecke. So ungefähr fühlt es sich an, durch einen Menschen zu schlüpfen.

Wo treibt der Kommissar sich da nur rum? Im Hotel? Schüttelfrost. Noch ein paar Meter und die eine oder andere Wand, dann hab ich ihn eingeholt. Ui, er ist nicht alleine, wen hat er denn da bei sich? Ist DAS die Kollegin, die ihn begleiten soll? Das nenne ich aber mal einen Sechser im Lotto. Das Hotel am Hühnertor, ich habe, nein hatte meine Wohnung gleich um die Ecke. Ich kenne den Concierge ganz gut. Niemand sonst war je in der Lage mich mit richtig guten Bagels zu versorgen. Monsier Felipe ist ein echtes Goldstück und die Gute Seele dieses ehrwürdigen Hotels. Mal abgesehen von seinen sonstigen Vorzügen. Da kommt er ja schon.

Die beiden betraten die Empfangshalle des Hotels und gingen zielstrebig auf die Theke zu, hinter der ein Mann undefinierbaren Alters in auffällig gepflegter Kleidung sie ansprach.
„Guten Morgen, was kann ich für sie tun?“
„Die junge Dame hier möchte ein Zimmer, aber eins von den besonders guten.“
Monsier Felipe überging dieses kleine Stichelei, denn in seinem Haus gibt es nur gute Zimmer. Und darauf war er sehr stolz.
„Wie lange wird ihr Aufenthalt sein?“

Hatte sie da meine Akte in der Hand? Das war doch die Gelegenheit. Wenn sie die auf die Theke legt. Ja, schön ablegen. Und jetzt... schwups.

Cornelia Röbel hatte die Akte auf der Theke abgelegt, um sich ins Gästebuch einzutragen. Irgendwie musste sie daran gestoßen sein, auf jeden Fall segelten die Bilder aus der Mappe alle auf den Boden und als der Empfangschef sich ganz serviler Gentleman danach bückte, hielt er erschrocken inne.
„Aber, das ist doch Mister Charon!“
Die beiden Ermittler sahen ihn fragend an.
„Er ist ein alter Freund des Hotels und hat ein Apartment im Haus gegenüber.

Darf ich jetzt ein bisschen stolz auf mich sein? Hab ich das nicht super hinbekommen? Auch wenn es mir für meinen alten Freund ein bisschen Leid tut, mich so sehen zu müssen. Das wird den ärmsten sicher noch eine Weile beschäftigen. Aber zumindest sollten die zwei Kriminalbeamten so endlich ein bisschen weiter kommen, bei der Aufklärung meines Mordes. Ich weiß inzwischen wieder ziemlich genau, was mit mir passiert ist und wem ich meinen Tod zu verdanken habe. Aber würde es euch nicht irgendwie die Spannung versauen, wenn ich das jetzt hier einfach so erzählen würde.

Eine kurze Befragung hatte zu den nötigen Erkenntnissen geführt, um die Wohnung des Opfers finden zu können. Peter Zufall hatte seiner neuen Kollegin noch den Koffer aufs Zimmer getragen und ihr dann gesagt, sie solle sich ein bisschen erfrischen und erst mal auspacken, während er sich schon mal die Wohnung ansehen würde. Sie folgte ihm allerdings schneller als er dachte.
„Kriminalkomissar Zufall. Sie sind hier der Hausmeister?“
„Ja.“
Er zeigte dem Mann, der vor dem Haus gerade mit dem Zusammenfegen der Blätter auf dem Gehweg beschäftigt war seinen Ausweis.
„Kennen Sie die Mieter hier?“
„Die meisten.“
Kommissarin Röbel gesellte sich zu den beiden.
„Mister Charon?“
„Der wohnt ganz oben, im Dachgeschoss.“
Er hatte der jungen Beamtin geantwortet, ohne ihre Zuständigkeit infrage zu stellen.
„Haben sie einen Schlüssel?“
„Nur zum Treppenhaus und den Wirtschaftsräumen. Andere Schlüssel haben nur die Mieter und der Hausverwalter.“
„Wo finden wir den?“
Der Hausmeister sah den Kommissar kurz an, wies dann auf die Haustüre.
„In der Wohnung unten rechts.“
„Danke.“
Cornelia Röbel lächelte ihn freundlich an und schob dann ihren Kollegen sanft aber bestimmend auf die Türe zu. Mit einem leichten Grinsen ließ er es geschehen. Erst als die Türe hinter ihnen ins Schloss fiel, sprach sie weiter.
„Er sieht alles, hört alles und tratscht sicher auch alles weiter. Vielleicht besser, wenn er nicht weiß, was wir hier wollen.“
„Kollegin Röbel, sie fangen an mir zu gefallen.“
„Sagen Sie doch Cornelia!“
„Na, dann sag du auch Peter.“
Er klingelte an der entsprechenden Wohnungstüre. Dumpf war das Rattern der betagten Klingel im Flur zu hören. Hinter der Türe waren Schritte zu hören, doch es dauerte eine Weile bis sich die Türe öffnete.

Ich war noch nie in der Wohnung gewesen. Den Vorteil hatte ich meinen beiden Ermittlern voraus: ich musste nicht erst warten, bis man mir die Türe aufmacht. Spießig und ein bisschen altbacken, aber das passt schon alles in das Bild, dass ich von unserem Concierge gemacht hatte. Alles in allem ist er ein etwas schrulliger, aber liebenswerter Charakter. Aber er könnte wirklich in bisschen schneller zur Türe schlurfen.

Ein älterer Mann in einem dunklen Anzug, den er wohl von seinem Vater geerbt haben musste blickte die beiden Ermittler über seinen sorgsam gezwirbelten Schnurrbart hinweg neugierig an.
„Ja, bitte?“
„Kriminalpolizei. Zufall mein Name und das ist meine Kollegin, Kommissarin Röbel.“
Er schaute sich den Ausweis genau an, den ihm der Kommissar vor die Augen hielt. Er blieb vollkommen unbeeindruckt und legte eine Art leicht arroganter Gelassenheit an den Tag, die viel besser zu einem Earl, Lord oder einem anderen englischen Adligen gepasst hätte.
„Was kann ich für sie tun?“
„Wir würden uns gerne die Wohnung von Mister Charon ansehen.“
„Was sagt Mister Charon dazu?“
Der Kommissar schmunzelte, wenn auch nur innerlich.
„Wahrscheinlich gar nichts.“
Cornelia hielt ihm das Foto hin und zum ersten Mal schien dieser aristokratisch stille Mann aus seiner Rolle zu fallen.
„Oh mein Gott! Mister Charon ist tot?“
„Tut mir leid das sagen zu müssen, aber ja, er wurde ermordet aufgefunden.“
Der Concierge drehte sich um, und griff nach dem nötigen Schlüssel, den er einem hinter der Türe liegenden, für die Beamten unsichtbaren Schlüsselbrett entnahm. Dann ging er, wieder ganz der über den Dingen stehende gute Geist des Hauses, zwischen den beiden Kommissaren hindurch. Die Türe fiel hinter ihm ins Schloss und die beiden Ermittler sahen ihm einen Augenblick überrascht nach, bevor sie ihm folgten.

Mit einem deutlichen Quietschen öffnete er das Scherengitter des antiken Fahrstuhls und bat die beiden Ermittler zu ihm in die metallene Kabine zu steigen. Danach schloss er das Gitter wieder und betätigte einen Hebel, der den Aufzug mit einiger Verzögerung rumpelnd nach oben schweben ließ. Cornelia und Peter tauschten einen vielsagenden Blick aus und der jungen Ermittlerin gelang es nur durch einen raschen Blick auf die Akten in ihren Händen ein Auflachen zu verhindern. Dieser Fall wurde immer interessanter.

Ruckartig kam der Fahrstuhl zum Stehen, als sie das oberste Geschoss erreicht hatten. Wieder öffnete der Concierge die quietschenden Scherengitter und ging mit bedächtigen Schritten auf die einzige Türe dieser Etage zu. Der Schlüsselbund klimperte in seiner Hand als er nach dem richtigen Schlüssel suchte. Die beiden Polizisten nahmen neben ihm Stellung ein und sahen zu, wie er in fast schon zeremonieller Ruhe den Bart des Schlüssels in das Schlüsselloch schob. Eine halbe Drehung und ein leises, aber in der absoluten Stille des großen Hauses deutlich hörbares Klacken, dann sprang die große Eichentüre auf. Der Concierge trat einen Schritt zurück und sah den Kommissar an.
„Sie brauchen mich dann ja nicht mehr. Wenn Sie hier fertig sind, dann betätigen Sie bitte die kleine Klingel neben dem Aufzugschacht, wenn sie nicht die Treppe nehmen wollen. Ich werde ihnen dann mit dem Fahrstuhl entgegen kommen.“
Noch bevor Peter Zufall eine Antwort geben konnte, hatte sich der Hausverwalter in den Fahrstuhl begeben und die Scherengitter hinter sich geschlossen. Also betrat er zusammen mit seiner Kollegin die Wohnung.
„Ein schrulliger Typ oder?“
„Ich hab schon viel erlebt, Cornelia, aber der schafft es auf jeden Fall in meine Memoiren, falls ich jemals welche schreiben sollte.“
Beide lachten kurz auf und betraten dann den langen Flur des Appartements.

Ich konnte das Rattern des alten Lifts hören, also genug mit der Besichtigung hier und auf in meine Wohnung. Ich bin seit meinem Tod nicht mehr dort gewesen. Dabei war sie während meines nicht ganz so langen Lebens eigentlich so etwas wie meine sichere Festung. Irgendwie geht mit dem Sterben das Bedürfnis nach sicherem Unterschlupf ein bisschen verloren. Ich würde ja zu gerne bei der Nachbarschaft ein bisschen spionieren gehen, aber vielleicht brauchen meine zwei Detektive ein bisschen meiner magischen Hilfe. Bisher hatte das ja wirklich hervorragend funktioniert.

„Peter?“
„Ja?“
„Das hier ist der Tatort. Komm mal ins Schlafzimmer!“
Im Flur hatten sie sich aufgeteilt, Peter wollte die Zimmer auf der rechten, Cornelia die auf der linken Seite durchsuchen. Hinter der ersten Türe auf der rechten Seite lag nur eine kleine unscheinbare Küche. Das Haus war um die Jahrhundertwende gebaut worden und der Wohnung merkte man an, dass sie für einen Haushalt mit Dienstboten geplant wurde. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Cornelia so schnell fündig werden würde. Als er in den Flur zurück kam, stand sie in der dritten Türe auf der linken Seite.
„Ruf schon mal die KTU, hier ist eine ganze Menge Arbeit zu erledigen.“
„Ja...“
Der Kommissar warf nur einen Blick in das überaus prächtige Schlafzimmer. Boden, Wände, und die hohe stuckverzierte Decke waren mit Blut bespritzt. Er ließ noch immer seinen Blick durch das verwüstete Zimmer gleiten, als er auch schon wie in Trance nach seinem Handy griff und die Kurzwahl der Abteilung Kriminaltechnische Untersuchungen wählte. Dirk würde seine helle Freude haben. Er war im Präsidium der Fachmann für Blutspritzer.

Ach der schöne Stuck. Und die teure Bettwäsche. Warum musste es auch so blutig sein? Dabei hatte ich ihn selbst in mein Leben geholt, mich von ihm in Sicherheit wiegen lassen... Hinterher ist man bekanntlich immer klüger. Okay, und ich meinem Fall eben leider auch tot. Das war sicher nicht so geplant gewesen. Oh, von seiner Seite aus ganz bestimmt, aber meine Zukunftsplanung sah ein bisschen anders aus. Ist schon lustig, wie sehr die Bedeutung von Zeit verloren geht, wenn man erst in der Ewigkeit angekommen ist. Ist es eigentlich unpassend, wenn ich mich auf die Bettkannte setze und den anderen beim Arbeiten zusehe?

Die beiden Ermittler überließen den Kollegen von der KTU das Feld und während Peter Zufall sich bei den Nachbarn umhören wollte, schickte er seine Kollegin zurück ins Hotel, damit sie sich endlich ein bisschen von ihrer Anreise erholen konnte. Sie verabredeten sich für den Abend auf ein Bier. Denn bei allen Vorbehalten, die er gegen eine Zusammenarbeit gehabt hatte, musste er zugeben, dass Cornelia alles andere als eine Belastung darstellte. Irgendwie hatten die beiden sofort einen Draht zueinander gefunden und der bärbeißige Einzelgänger hatte sich einen Ruck gegeben und freute sich auf die kommenden Tage.

Ich werde ganz unruhig, wenn ich all diese weiß gekleideten Außerirdischen durch meine Wohnung schleichen sehe. Helfen kann ich hier nicht und einer Dame heimlich auf ihr Zimmer folgen gehört sich auch nach dem Tod einfach nicht. Da ich wusste, dass meine Nachbarn nichts über mich zu sagen haben, weil ich ihnen so weit wie möglich aus dem Weg gegangen war, würde es auch nichts bringen, meinen Kommissar zu verfolgen. Aber ihr könnt ja ruhig mit ihm gehen, während ich mir die Wohnungen meiner Nachbarn einmal genauer ansehen werde. Ich melde mich dann wieder, wenn ich meine Neugier befriedigt habe.




Fortsetzung folgt...

Montag, 4. April 2016

Zwischen den Welten - ein etwas anderer Krimi

Dass es mich nicht mehr gibt, ahnen einige wohl, aber nur einer weiß, dass ich tatsächlich bereits tot bin. Kein Mahnmal weist auf mich hin, kein Kreuz, kein Stein. Nichts, was noch an mich erinnern würde. Aber ich habe noch etwas zu tun, bevor ich diese Welt endgültig hinter mir lasse. Ihr könnt mich Charon nennen.

Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als ihr euch in euren kühnsten Träumen vorstellen könnt. Glaubt mir, ich muss es wissen, denn ich bin genau hier, in der Mitte. Im Nirgendwo. Oder irgendwo dazwischen. Ich bin hier nicht alleine. Davon gehe ich zumindest aus, denn es muss auch andere geben, die sich noch nicht zu ihrer nächsten Station aufgemacht haben.

Nur kann ich sie nicht sehen. So wie ihr auch mich nicht sehen könnt. Aber ich bin da. Ich wandere durch eure Straßen, begleite euch auf eurem Weg ein Stück und denke über das Leben nach, dass ich hätte haben können. Und nach einer Weile begann ich darüber nachzudenken, warum ich mein Leben verloren habe.

Nun, ich habe es nicht wirklich verloren. Es ist mir nicht einfach so abhanden gekommen. Ich hab es nicht irgendwo liegen lassen und vergessen. Wenn man tot ist, dann versteht man endlich den Witz hinter all den Formulierungen, die man als Mensch so sein Leben lang für den Tod gehört, gelesen und benutzt hat. Das Leben verlieren. Aus dem Leben scheiden. Als würde man sich dafür einen Anwalt genommen haben um sich in einer ordentlichen Schlammschlacht mit dem Tod das bestmögliche Ergebnis zu sichern.

Ich glaube, das liegt an der Angst der Lebenden vor der Tatsache, dass sie nicht wissen, was danach mit ihnen geschieht. Ich kann euch sagen, dass ihr keine Angst haben müsst. Der Tod ist ziemlich unspektakulär. Ein bisschen so wie morgens in einem fremden Bett wach werden und nicht wissen, wie man dort gelandet ist, oder was in der Nacht zuvor wirklich passiert ist. Ohne die unangenehmen Kopfschmerzen und diesen ekligen Geschmack auf der Zunge. Aber ansonsten kommt das der Sache schon ziemlich nahe.

Und genau wie nach einem ordentlichen Kater, setzt auch nach dem Tod die Erinnerung nur stückweise wieder ein. Im Falle meines Todes war ich ganz dankbar, dass ich die Wahrheit nur in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert bekam. Ich wurde brutal ermordet. Eine wahre Blutorgie. Da war es besser, dass ich das Gesamtbild aus vielen Puzzleteilen zusammensetzen musste. Und genau darum bin ich noch hier. Ich habe noch etwas zu erledigen. Aber das erwähnte ich ja bereits.

Und jetzt muss ich mich endlich mal darum kümmern, dass jemand meinen Körper findet. Der gammelt jetzt schon fast eine Woche hier herum und das geht ja mal gar nicht. Sieht reichlich bescheiden aus, was da so von mir übrig geblieben ist. Eigentlich kann man sich so nirgendwo blicken lassen, aber damit muss ich wohl leben... also, ich meinte klarkommen. Als Toter hat man es nun wirklich nicht leicht mit den Formulierungen! Jetzt muss ich erst einmal jemanden finden, der mich hier entdeckt.

Kommissar Peter Zufall stieg aus dem Wagen und verließ den Parkplatz in Richtung Kanal. Ein kurzer Blick durch das Blätterdach des Stadtwaldes zeigte ihm, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Er bückte sich unter dem Absperrband hindurch und sah seine Kollegen schon ein Stück weiter bei der Arbeit. Seine Aufmerksamkeit galt zu aller erst dem Chef der Forensik.
„Morgen Dirk, kannst du schon was zur Todesursache sagen?“
„Moin Pitt, mehrere Stichwunden. Drei davon tödlich.“
„Ein Mord am Freitag und schon ist das ganze Wochenende hinüber! Wer hat ihn gefunden?“
Dirk Brünn wies auf einen Sportler, der auf einer Parkbank am Rande des Weges saß und darauf
wartete, endlich vernommen zu werden. Er sah reichlich mitgenommen aus.
„Sie haben die Leiche entdeckt?“
„Ja, ich fuhr hier mit dem Rad und bin irgendwie in einem Ast hängen geblieben und gestürzt. Hinter dem Gebüsch hab ich dann den Körper entdeckt.“
„Die Leiche liegt noch so, wie sie sie gefunden haben?“
„Ja. Ich hab sofort den Notruf gewählt.“
„Ihr Wochenende dürfte wohl auch nicht ganz so verlaufen, wie gedacht. Sollten sie Hilfe brauchen, kann ich ihnen einen Seelsorger oder eine psychologische Betreuung anbieten.“
„Danke.“

Der Kommissar verwies ihn an einen der Polizeibeamten und sah sich den Tatort noch einmal genauer an. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde. Aber außer den Kollegen war niemand zu sehen. Gerade wurde die Leiche in einen Sack gepackt und für den Transport in die KTU in einen Leichenwagen verfrachtet. Dirk Brünn sammelte mit zwei weiteren Forensikern noch einige Beweisstücke ein, da grollte der erste ferne Donner. Der Ermittler machte sich auf zum Präsidium, um sich die Vermisstenfälle anzusehen. Bei der Leiche waren keinerlei persönliche Gegenstände gefunden worden. Auch kein Ausweis.

Ich hatte ganz schön Probleme, jemanden auf meine Überreste stoßen zu lassen. Der Fahrradfahrer war der dritte, dem ich einen Stock zwischen die Speichen geschleudert habe. Dass er dabei allerdings direkt auf mir landen würde, also auf meinem Körper, nicht auf mir, das war nicht beabsichtigt. Ich habe ein paar Tage gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich unbelebte Gegenstände bewegen kann. Da hätte ich ruhig ein bisschen früher drauf kommen können, immerhin stamme ich aus der Generation, die Poltergeist im Kino gesehen hat. Den Körper eines anderen Menschen zu besetzen, ist mir bisher noch nicht gelungen.

Wäre ziemlich praktisch, wenn jemand von mir besessen wäre. Wobei ich vielleicht noch nicht lange genug tot bin, um das wirklich zu wollen. Immerhin hätte ich während meiner Phase der Lebendigkeit auch nicht gerne einen fremden Geist in mir gehabt. Selbst jetzt als Toter ist mir dieser Gedanke noch ein bisschen unangenehm. Wahrscheinlich habe ich mich daher auch nicht wirklich angestrengt, bei meinen Versuchen, in einen Jogger zu fahren und ihn über meine Leiche stolpern zu lassen. Die Idee mit dem Ast war aber definitiv die zweitbeste Idee, die mir in dem kleinen Wäldchen gekommen ist. Zumindest kam sie zum gleichen Ergebnis.

Natürlich habe ich mich sofort an Kommissar Zufalls Fersen gehängt. Ich hoffe, dass er besser ermittelt, als es sein Name vermuten lässt. Auf der Fahrt zum Präsidium war ich jedenfalls zum ersten Mal froh, schon tot zu sein. Bei dem Fahrstil hätte ich sonst um mein Leben gefürchtet.

Leicht mürrisch holte sich Peter Zufall eine Tasse Kaffee, die wahrscheinlich seit dem frühen Morgen auf der Warmhalteplatte stand und stark und bitter schmecken würde. Aber genau das brauchte er jetzt. Er hatte eindeutig zu wenig geschlafen und dass ihm diese unbekannte Leiche jetzt auch noch sein erstes freies Wochenende seit Monaten zunichte machen würde, war auch keine besonders belebende Aussicht. Mit finsterer Miene ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Rechner ein.

Der Kaffee hatte etwas von Teer auf seiner Zunge und er war viel zu heiß. Er ignorierte den Schmerz in der Zungenspitze und trank schon aus Trotz sofort noch einen Schluck. Es dauerte ihm schon wieder viel zu lange, bis er nach Vermissten in den Unterlagen seiner Behörde suchen konnte. Er gab die groben Einschätzungen seines Forensikers in die Suchmaske ein und wartete auf ein Ergebnis.

So wird er mich nie finden. Mein Verschwinden hat doch sicher niemand gemeldet. Solange die Miete immer pünktlich auf dem Konto meines Vermieters war, würde der nie auf die Idee kommen, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte und das war noch für einige Monate sichergestellt. Und sonst gab es niemanden, der nach mir hätte suchen wollen. Ich gehe mal davon aus, dass die Inhaberin des Kiosks an der Ecke nicht unbedingt die Polizei rufen würde, wenn ich jetzt nicht mehr einmal in der Woche meine Zeitschrift bei ihr kaufte.

Gleiches galt wohl auch für den türkischen Lebensmittelmarkt in der Straße oder auch für die Nachbarn, von denen ich eigentlich außer ihren Lärm generierenden Sexualpraktiken und dem Vornamen des Mannes nicht viel wusste. Dass er Martin hieß, wusste ich nur deshalb, weil seine Frau ihn kurz vor dem Höhepunkt ihrer Bettgymnastik jedes Mal unüberhörbar für die gesamte Nachbarschaft in den Raum schrie.

Während der Computer vor sich hin ratterte, beschloss Peter Zufall, noch einmal in der Pathologie vorbei zu schauen und zu sehen, ob sein Kollege inzwischen ein paar neue Informationen für ihn hatte. Auf dem Flur lief er seinem Chef über den Weg und schaffte es tatsächlich, sich nur mit einem kurzen Nicken an ihm vorbei ins Treppenhaus zu schieben. Auf ein bisschen Smalltalk mit seinem Vorgesetzten konnte er nun wirklich verzichten.

Dirk Brünn wollte sich gerade über die Leiche hermachen, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er sah nur kurz auf und setzte in dem Wissen, seinen Freund damit nicht mehr schockieren zu können, das Skalpell an.
„Du kommst sicher, um mir ein bisschen Druck zu machen, aber noch kann ich dir nichts sagen. Lass mich meine Arbeit hier tun, dann bekommst du auch Ergebnisse.“
Der Sarkasmuss troff geradezu von seinen Lippen.
„Kein Eile, Dirk, ich hatte am Wochenende eh nichts vor.“
„Es war auf jeden Fall Mord. Mehrere Blutergüsse, Abschürfungen, Spuren von Fesselung und Würgemale am Hals. Tödlich dürften aber die drei Stiche sein, die unmittelbar ins Herz gingen. Ach ja, und der Fundort ist sicher nicht der Tatort. Zu wenig Blut im Wald.“
„Du hast ja doch schon was getan.“
Der Forensiker sah ihm empört in sein grinsendes Gesicht und schüttelte resignierend den Kopf. Die beiden arbeiteten seit mehr als 20 Jahren zusammen und waren mehr als nur Kollegen.
„Mach, dass du hier raus kommst, ich hab ein scharfes Messer in der Hand!“
Beide lachten, dann machte sich Kommissar Zufall wieder auf in sein Büro.

Es war ein bisschen gruselig, dem Forensiker dabei zuzusehen, wie er meinen leicht gammeligen Leichnam so ganz ohne jede Regung aufschnitt. Irgendwie war mir das unangenehm und so schaute ich mich ein bisschen in seine Refugium um. Ich war wohl nicht der einzige Tote, der ihm in dieser Woche unter das Messer gekommen war. Hemmungslos nutzte ich meine kürzlich neu erlangte Fähigkeit einfach durch Wände und Türen gehen zu können. Tot zu sein hat durchaus seine Vorteile. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einfach so schweben kann, also nahm ich dann sicherheitshalber doch die Treppe, um wieder nach meinem Ermittler zu sehen.

Nur, wie ich ihn auf die richtige Spur bringen konnte, hatte ich noch nicht wirklich herausgefunden. Dabei hätte es ihm sicher geholfen, meinen Namen zu kennen. Oder zu wissen wo ich wohne. Vielleicht würde es ihm auch helfen, wenn ich ihn an den Ort bringen würde, an dem ich ermordet wurde.

Die Suche hatte keinen Treffer ergeben. Frustriert starrte der Polizist auf den Bildschirm. Keinerlei Anhaltspunkte. Er wusste nicht mal, ob das Ergebnis aus der Pathologie ihn wirklich weiter bringen würde. Und vor Morgen früh würde er das sicher nicht auf dem Schreibtisch haben. An solchen Tagen hasste er seinen Job. Erschrocken hob er den Kopf, als die Türe zu seinem Büro aufging. Aber niemand betrat den Raum. Als er aufgestanden war und aus dem Rahmen der Türe einen Blick in den Flur warf, war auch dieser leer. Verwirrt schloss er die Türe und machte sich daran, einen Bericht zu schreiben, in dem er alle bisherigen Erkenntnisse, so wenig es am Ende dann auch waren, zusammenfasste. Dabei fühlte er sich wieder irgendwie beobachtet. Das Gefühl hatte er auch im Wald und auf der Fahrt ins Präsidium schon gehabt.

Wenn man es gewöhnt war, immer Türen zu benutzen, fällt es einem wirklich verdammt schwer, sie geschlossen zu lassen, nur weil man sich neuerdings einfach so hindurch bewegen kann. Ich habe mich noch nicht so recht dran gewöhnt, aber das wird sicher noch. Einen Augenblick dachte ich, Kommissar Zufalle könne mich sehen. Da er nur Sekunden später einfach durch mich hindurch lief, als er in den Flur sehen wollte, war ich wieder beruhigt. Ist ein komisches Gefühl, wenn man durch einen Lebenden hindurch läuft, oder eben umgekehrt. Es kitzelt ein bisschen.

Natürlich hat der Computer nichts brauchbares ausgespuckt, also werde ich mir etwas einfallen lassen, um meinen grummeligen Kommissar auf die richtige Fährte zu setzen. Angesichts der stark eingeschränkten Mittel die mir zur Verfügung stehen, dürfte das nicht ganz einfach sein. Mal überlegen. Wie bekomme ich ihn in den Hafen?

Da er eh nichts mehr machen konnte, bis er ein paar neue Ansätze bekam, entschloss sich der Kommissar, etwas früher in den Feierabend zu gehen und den Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Er zog sich seine Jacke über und schlich sich aus dem Präsidium zu seinem Wagen. Er hatte mehr Überstunden als alle anderen hier und das Schleichen hatte nichts mit einem schlechten Gewissen zu tun. Er hatte nur keine Lust, seinem Chef über den Weg zu laufen. Der würde ihn nur wieder nach einem neuen Partner fragen und den wollte er eigentlich lieber gar nicht mehr haben.

Es waren nur noch 3 Jahre bis zu seinem Ruhestand und in denen wollte er sich nicht noch einmal an die Marotten eines neuen Partners gewöhnen müssen. Er hatte schon genug eigene, die reichten allemal. Natürlich galt er im Präsidium als der einsame Wolf, aber dass machte ihm nicht aus. An den meisten Tagen fühlte er sich eher geschmeichelt,wenn er so genannt wurde. Auf dem Weg zu seiner Wohnung hielt er am Drive-In eines Schnellrestaurants und gönnte sich einen Burger, Pommes und eine Cola. So sparte er sich wenigstens das Kochen.

Er warf die Papiertüte mit seinem Abendmahl auf den Beifahrersitz und nestelte während der Fahrt bereits nach dem darin liegenden Hamburger. Nach dem ersten Biss in das pappige Brötchen mit der lauwarmen Hackfleischplatte fühlte er sich schon ein bisschen besser und grunzte zufrieden. Für die Cola hatte er keine Hand frei, die würde genau wie die Pommes noch bis zu seiner Ankunft in seiner kleinen privaten Höhle warten müssen.

Ich war erschrocken auf dem Sitz zusammengezuckt, als er die Tüte mit seinem Abendbrot auf meinen Schoß warf. Erst als die Papiertüte widerstandslos durch meine Oberschenkel sackte, fiel mir wieder ein, dass ich tot war. Ein bisschen unangenehm war es, als er nach dem Hamburger suchte. Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte seine Hand sich an einer recht pikanten Stelle zu schaffen gemacht. Ich musste grinsen, als ich darüber nachdachte und beinahe hätte ich laut aufgelacht.

Er kaute zufrieden an seinem Burger und wir fuhren immer weiter in die Außenbezirke. Das Wohnumfeld wurde immer schlechter. Scheinbar sind Kommissare hoffnungslos unterbezahlt und müssen in den übelsten Gegenden der Stadt siedeln. Vielleicht war es auch nur so eine Art Nähe zu seiner üblichen Klientel, die ihn gerade hier direkt hinter dem Rotlichtviertel wohnen ließ. Auf jeden Fall hielt er vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus in einer Sackgasse.

Ich musste mich richtig anstrengen, mit ihm Schritt zu halten und huschte gerade noch so durch die Türe, bevor sie ins Schloss fiel. Seine Wohnung war ähnlich trostlos wie seine Nachbarschaft. Nur das allernötigste, keinerlei Luxus. Die typische Wohnung eines verschrobenen Junggesellen. Wenn ich nicht wüsste, dass er Polizist ist, könnte ich auch denken, ich befinde mich in der Wohnung eines psychopathischen Massenmörders.

Zumindest erweckte der reichlich unaufgeräumte Schreibtisch im Wohnzimmer den Eindruck. Die Wand dahinter war mit Tatortfotos und Zeitungsberichten tapeziert. Damit werde ich mich später beschäftigen. Immerhin braucht man als Toter keinen Schlaf und damit habe ich die Nacht über genug zu tun. Ich sah mich weiter in der Wohnung um. Die Küche ist nur eine kleine Kochnische und in der Spüle stapelt sich das Geschirr von mindestens 3 Tagen.

Das Schlafzimmer besteht nur aus einem schmalen Bett und einem alten Kleiderschrank, der scheinbar nur noch vom Lack zusammengehalten wird. Die ganze Wohnung hatte den Charme einer Gefängniszelle. Auf dem Wohnzimmerschrank stand ein vergilbtes Familienfoto aus besseren Tagen. Zumindest weiß ich jetzt, dass mein Kommissar nicht immer allein war. Und mir wird langsam klar, warum er so spartanisch wohnt. Und ich ahne auch, woran diese Beziehung zerbrochen ist.

Er ließ sich auf sein Sofa fallen, griff nach der Fernbedienung und schaltete einmal durch alle Kanäle auf der Suche nach ein bisschen Zerstreuung. Der Burger war auf der Fahrt schon fast verschlungen, also griff er sich die Pommes aus der Tüte und schlürfte lautstark an seiner Cola. Hier musste er auf niemanden Rücksicht nehmen. Er wohnte schon seit Jahren alleine und hatte auch nicht vor, daran noch etwas zu ändern.

Seine Frau hatte eines Tages die Koffer gepackt und das Haus am Stadtrand, dass sie kurz nach der Hochzeit gekauft hatten, fluchtartig verlassen. Seine Kinder waren damals längst zuhause ausgezogen und so blieb er alleine in einem viel zu großen Haus, in dem er sich nie wirklich heimisch gefühlt hatte. Die Scheidung verlief reibungslos und er entschloss sich, das Haus zu verkaufen, um damit einen Teil des Unterhaltes für seine Frau zu stemmen. Die Wohnung in der er jetzt lebte, war eigentlich nur eine Notlösung, weil die Interessenten für sein Vorstadthäuschen schneller gefunden waren, als er sich das gedacht hatte.

Er lebte jetzt seit mehr als 10 Jahren hier und hatte sich mit der Situation arrangiert. Spätestens nach dem tragischen Tod seines langjährigen Partners Sven Meyer hatte er alle Energie verloren, an seinem Leben noch etwas zu ändern. Mit seiner Frau hatte er seit der Scheidung kein Wort mehr gesprochen. Seine Tochter hatte ins Ausland geheiratet und lebte jetzt mit ihrem Mann und dem Enkel in Toronto. Sein Sohn hatte sich auf die Seite seiner Frau geschlagen und den Vater vom Tag der Scheidung an einfach aus seinem Leben gestrichen.

So war er auf seine alten Tage noch einer der Top-Ermittler der Polizeidirektion Nord geworden. Er lebte einzig noch für seinen Job und da er nichts anderes mehr hatte, für das er seine Zeit und Energie opfern konnte, wurde er ziemlich gut darin, Verbrecher zur Strecke zu bringen. Der einzige Mensch, den er wirklich an sich heran gelassen hatte, war sein Partner Sven. Als dieser bei einem Einsatz erschossen wurde, hatte ihn das tiefer getroffen als die Scheidung von seiner Familie. Und das war auch einer der Gründe, sich einem neuen Partner zu verweigern. Noch einmal alles umwerfen, neu anfangen, sich arrangieren, das alles wollte er nicht mehr.

Er sammelte die Reste seines Essens ein, schaltete frustriert den Fernseher aus und warf auf dem Weg ins Bad die Verpackungen in den Mülleimer. Er freute sich auf eine ausgiebige, heiße Dusche und würde danach in sein Bett verschwinden. Er drehte das Wasser auf und begann sich auszuziehen. Sein Telefon und Handy hatte er vorsorglich ausgeschaltet. Heute Abend wollte er nicht mehr gestört werden.

Ich beugte mich über den Schreibtisch. Im Hintergrund hörte ich das Geräusch des Fernsehers, einzelne Wortbrocken, Musik, Werbejingles. Wenn ich mich nur hinsetzen könnte, aber den Stuhl bewegen wollte ich nicht, so lange er noch im Raum war. Mir wurde schnell klar, dass diese ganzen Fotos, Zeitungsausschnitte und Ausdrucke von Fahndungsdateien etwas ganz persönlich mit meinem Kommissar zu tun haben mussten. Aber ich brauchte eine Weile, um aus den einzelnen Teilen das große Ganze zu extrahieren.

Sehr hilfreich war einer der Artikel. „Ermittler der Kripo stirbt bei Einsatz im Hafengebiet.“ Das war also der Partner meines Kommissars gewesen. Ein guter Freund, wie ich annahm und ein unerledigtes Kapitel in seinem Leben. Ganz offensichtlich hatte man den Schützen nicht festnehmen können. Eine halbe Stunde später wusste ich, dass man ihn nicht einmal eindeutig identifiziert hatte. Wenn er das nicht bald lösen würde, könnte Peter Zufall bald ziemlich genau in der gleichen Lage sein wie ich es gerade bin. Man kann nicht loslassen, wenn man etwas unerledigtes in dieser Welt zurücklassen würde. Wenn er meinen Tod aufklärte, würde ich ihm helfen, seine ungelösten Probleme zu beseitigen.

Ich schaute kurz auf, als ich die Badezimmertüre hörte. Vor sich hin summend und leider auch vollkommen unbekleidet wanderte Kommissar Zufall an mir vorbei in Richtung Schlafzimmer. Manche Details über meinen Schützling hätte ich wirklich nicht kennen müssen. Aber sein mangelndes Feingefühl will ich ihm mal nicht ankreiden, immerhin glaubt er noch immer, alleine hier zu sein. Wenn ihr also gerne nackt durch eure Wohnung lauft, denkt an uns arme Tote. Das würde uns viel Elend ersparen.

Nach der Dusche ging es ihm schon wieder viel besser. Jetzt noch ein bisschen Schlaf und er würde den Samstag Morgen mit einer ganzen Menge mehr Elan angehen könnte, als er das am heutigen Morgen nach durchzechter Nacht getan hatte. Er hatte auch heute kurz überlegt, noch auf ein oder zwei Bier in die Kneipe an der Ecke zu gehen, aber da wartete ein unbekanntes Mordopfer auf ihn und dafür würde er seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit brauchen. Immerhin war er keine 20 mehr und hatte schon von einem leichten Kater deutlich länger als früher.

Sein Blick fiel auf den Schreibtisch und er hatte das Gefühl, als lägen die Unterlagen nicht mehr so, wie er sie hinterlassen hatte. Beunruhigt schaute er sich genauer um, überprüfte die Türe und alle Fenster, stellte aber beruhigt fest, dass sie alle verschlossen waren und auch keine Einbruchsspuren aufwiesen. Wahrscheinlich hatte der ganz in Gedanken selbst in seinen Unterlagen gestöbert. Einen Augenblick dachte er daran, die Sachen wieder zu Ordnen, aber heute wollte er sich nicht mit dem beschäftigen, was seinem Partner Sven Meyer geschehen war. Das musste warten. Sein aktueller Fall ging vor.

Er löschte das Licht und schloss die Schlafzimmertüre hinter sich. Das Bett wartete schon auf ihn und es dauerte nur wenige Minuten, bis er sanft ins Traumland glitt. Er fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Statt weiter in seinen Unterlagen zu stöbern, blieb mir nichts anderes übrig, als mir die Umgebung mal etwas genauer anzusehen. Denn auch wenn man tot ist, funktioniert das mit dem Lesen im Dunkeln nicht und das Licht einfach wieder einzuschalten hielt ich für ein bisschen zu offensichtlich. Immerhin war ihm schon aufgefallen, dass ich einige der Unterlagen verschoben hatte. Er war sehr aufmerksam, scheinbar hatte ich Glück, dass ich auf dem Schreibtisch eines alten Hasen wie Herrn Zufall gelandet war.

Und ich war ganz froh, dass es nicht sein privater Schreibtisch war, denn alles in allem war das schon ein bisschen beängstigend mit einem Hang zur Besessenheit. Aber auch das mochte seine Vorteile haben, wenn es darum ging, sich auf die Fährte meines Mörders zu begeben.

Das Viertel in dem die Wohnung lag, hätte ich als lebender Mensch nach Einbruch der Dunkelheit wohl eher gemieden. An der nächsten Straßenecke kann man schon die ersten Damen des horizontalen Gewerbes ihrem Job nachgehen sehen und auch der Rest der Gegend macht eher den Eindruck eines kriminellen Krisenherdes. Direkt vor meinen Augen wechselten ein paar kleinere Drogenpäckchen den Besitzer und bei dem, was in einem der kleinen Ramschläden auf der Hauptstraße angeboten wurde, handelte es sich mit Sicherheit um Hehlerware.

Wirklich eigenartig, dass es einen Polizisten ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hat. Das Leben steckt schon voller eigenartiger Dinge. Zugegeben, der Tod hat auch einige Überraschungen auf Lager, aber verglichen mit dem Leben - oder soll ich es Schicksal nennen? - war der Tod ein blutiger Anfänger. Aber das werdet ihr ja alle früher oder später noch feststellen können.

Der Wecker klingelte viel zu früh. Noch immer nicht mit genügend Schlaf versehen, stieg der Kommissar leicht missmutig aus dem Bett. Er brauchte dringend einen Kaffee. Vorher hielt er sich schon aus reiner Freundlichkeit gegenüber der restlichen Menschheit von anderen fern. Dass er ein Morgenmuffel war, hatte ihm seine Frau bei der Scheidung unter die Nase gerieben. So wie sie ihm alles unter die Nase gerieben hatte, was sich in den Jahren ihrer Ehe aufgestaut hatte. Dabei war auch sie alles andere als einfach.

Barfuß schlurfte er in Richtung Kochnische und zupfte dabei seine Unterhose wieder in eine einigermaßen bequeme Position. Noch immer im Halbschlaf löffelte er Kaffeemehl in den Filter und füllte die Maschine mit Wasser. Als er die Maschine einschaltete, gab es einen Knall, es roch verbrannt und er stand im Dunkeln. Fluchend zog er den Stecker und beschloss, auf das Frühstück zu verzichten. Sein Weg führte ihn direkt ins Bad und wenig später dann ins Präsidium, wo er sich zumindest den dringend benötigten Kaffee verschaffen konnte.

Leider schaffte er es nicht ungesehen in sein Büro und musste natürlich ausgerechnet seinem Chef über den Weg laufen.
„Zufall, gut, dass ich sie treffe! Keine Sorge, ich werde ihnen nicht schon wieder mit dem Partner auf den Wecker gehen. Aber so ganz alleine werden sie nicht arbeiten können. Ich hab da einen jungen, vielversprechenden Kollegen aus Stuttgart an der Hand, der gerne mal in unsere Mordkommission reinschnuppern würde. Er kommt heute Nachmittag und wird bis auf weiteres ihr Begleiter sein.“
Er wollte gerade den Mund öffnen, um darum zu bitten, diesen Kelch an ihm vorüber ziehen zu lassen, aber sein Chef war nicht erst seit gestern sein Vorgesetzter und nahm ihm schnell den Wind aus den Segeln.
„Sie sind der beste, den wir haben, Sie werden damit leben müssen, dass ich mit Ihnen angeben will. 14 Uhr wird der Kollege eintreffen. Lassen Sie ihn ruhig mal sehen, wie ein alter Hase das macht!“
Und damit stand er alleine im Flur. Ja, heute war eindeutig sein Glückstag. Das wusste er spätestens, als er den spärlichen Rest Kaffee sah, der so eben den Boden seiner Tasse bedeckte. Mit einem Schulterzucken, setzte er eine neue Kanne auf und blieb daneben stehen, bis das schwarze, duftenden Getränk fertig durch den Filter gelaufen war. Der erste Schluck, heiß wie Lava, aber genau das, was er schon den ganzen Morgen gebraucht hätte, versöhnte ihn ein bisschen mit dem Tag. Immerhin hatte der noch eine kleine Chance besser zu werden.

Beinahe hätte ich ihn verpasst. Ich konnte so gerade noch zu ihm ins Auto springen, bevor er zur Arbeit fuhr. Mein Ermittler ist ein wahrer Ausbund an Fröhlichkeit heute. Irgendeine Laus muss ihm schon beim Frühstück über die Leber gelaufen sein, aber da war ich noch damit beschäftigt, beim Bäcker ums Eck dem Tratsch zu lauschen.

Ich hatte in meinem Leben einige Taxi-Fahrer kennen gelernt, die gesitteter fuhren als Peter Zufall. Drei Beinahe-Unfälle, einiges Hupen und sicherlich deutlich mehr Flüche der anderen Autofahrer sind die Bilanz der wenigen Kilometer zu seiner Dienststelle. Wenn man tot ist, gewöhnt man sich eine geradezu buddhistische Ruhe an. Was soll einem schon passieren? Toter als tot geht nicht. Trotzdem war es gut, den Parkplatz zu erreichen.

Soll er sich seinen Kaffee holen, ich werde mich mal ein bisschen in seinem Büro umsehen. Chaos würde ich das nicht nennen, eher organisiertes Durcheinander, aber zumindest liegt meine Akte ganz oben auf dem Stapel. Nur, wie ich ihn meinen Namen herausfinden lassen soll, weiß ich noch immer nicht wirklich. Vielleicht wäre es einfacher, ihn zu meiner Wohnung zu führen, aber auch dafür hatte ich noch nicht die richtige Vorgehensweise gefunden. Wie gesagt hatte ich das mit dem Besessen-Sein noch nicht ganz raus.

Er inhalierte den belebenden Duft, der sich aus seiner Tasse um seine Nase kräuselte und wäre vielleicht schon fast zu einem Lächeln bereit gewesen, aber dann sah er, dass ihm sein Chef ein kleines Präsent auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und stellte die Tasse auf den Tisch. War eh besser, wenn der Kaffee ein bisschen abkühlen würde. Er schob die Akte des Mordfalles zur Seite und sah sich den Lebenslauf an, den sein Chef ihm hinterlassen hatte. Sein Besucher für den Nachmittag hieß Cornelia Röbel. Irgendwie wollte der Tag seine Chancen nicht nutzen.

Seine Ablehnung schwand allerdings, nachdem er sich ein bisschen intensiver in die Unterlagen eingelesen hatte. Ja, die junge Dame schien wirklich den richtigen Riecher fürs Verbrechen zu haben, auch wenn er es nie zugegeben hätte, war er von der Liste der gelösten Fälle wirklich beeindruckt. Vielleicht würden die nächsten Tage doch besser werden als er befürchtet hatte.

Ich las über seine Schulter mit. Interessante Aussichten. Zwei echte Profis, um meinen Mord aufzuklären. Klingt fast wie ein Sechser im Lotto. Immerhin wird es für die beiden noch einiges zu tun geben. Und da kommt ja auch schon der Forensiker mit meinem Autopsiebericht, jetzt wird es spannend.

Dirk Brünn hatte sich dazu entschlossen, seine Katakomben zu verlassen und seinem Freund den Bericht persönlich auf den Schreibtisch zu legen. Er betrat das Büro ohne anzuklopfen und ließ sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen, während er seinem Kollegen die Dokumente zuwarf.
„Hier, hab extra für dich Überstunden gemacht. Ziemlich harter Tobak, Peter. So viele Verletzungen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Unser Unbekannter hat einen erschreckend schmerzhaften Tod gehabt.“
Peter sah ihn fragend an.
„Die Stichwunden. Die waren zwar das, was ihn am Ende umgebracht hat, aber die restlichen Verletzungen... die stammen alle von den Stunden vor dem Tod. Und der Wald ist definitiv nur der Ablage-Ort. Bei all dem Blut, dass da geflossen ist, muss der Tatort woanders liegen.“
Der Kommissar blätterte durch den Bericht und studierte ausgiebig einige der Fotos, die den Unterlagen beigefügt waren.
„Das sieht wirklich übel aus. Eher nach einer langsamen Hinrichtung, nach Folter. Da draußen ist ein Irrer unterwegs und ich hab nicht den geringsten Anhaltspunkt, wer unser Opfer eigentlich ist.“
Verärgert warf er die Fotos auf den Tisch und sammelte sie gleich wieder ein, um sie zur restlichen Fall-Akte zu legen.
„Danke, Dirk. Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wie ich an seine Identität kommen könnte?“
Der Forensiker schüttelte den Kopf.
„Nein, keine Prothesen, keine künstlichen Gelenke oder Knochen. Absolut nichts auffälliges. Tut mir Leid.“
Er beugte sich nach vorne und schob die Unterlagen zur Seite, um sich sehr zielstrebig den Lebenslauf zu greifen.
„So, so, da bekommst du heute also Damenbesuch.“
Er grinste.
„Ja. Und werde mich gleich blamieren, weil ich eine Leiche habe, aber weder einen Namen, noch einen Tatort, von einem.Verdächtigen mal gar nicht zu reden.“
Der Forensiker zuckte mit den Schultern und stand auf. Er verabschiedete sich noch von seinem Freund und stieg wieder hinab in das Reich der Toten.

Peter Zufall legte seine Unterlagen zusammen und entschloss sich spontan, wenigstens für ein bisschen Ordnung zu sorgen, bevor sein Gast kam. Den zweiten Schreibtisch hatte er nach Svens Tod lange unberührt gelassen, doch inzwischen diente er als Lagerplatz für seine Unterlagen. Das musste er auf jeden Fall noch ändern, denn wenn diese Kollegin eine Weile blieb, würde sie einen Arbeitsplatz brauchen und bei dem Fall würde er heute keinen Schritt weiterkommen.

Irgendwie hatte ich nicht den Eindruck, dass mein Mord je aufgeklärt würde, aber hier rumhängen und ihm beim Aufräumen zusehen? Das muss ich mir auch nicht antun. Vielleicht würde es mir helfen, mich an die Fersen meines Mörders zu heften. Dabei hilft mir übrigens ein weiterer Vorteil den der Tod mit sich bringt. Man bekommt eine Art... sagen wir mal Lebens-Radar. Ich muss nur an jemanden denken, und weiß sofort, wo ich ihn zu suchen habe. Ist ganz schön praktisch manchmal. Nur die Reise dorthin kann ein bisschen unangenehm sein.

Ich kann mich innerhalb von Sekunden an die richtige Stelle begeben, allerdings muss ich dazu in direkter Linie durch alles hindurch, was im Weg liegt. Wände, Bäume, Autos, Menschen. Das ist nicht wirklich angenehm, weshalb ich meist den Weg nehme, den ich auch im Leben genommen hätte. In diesem Fall aber, werde ich den direkten Weg nehmen müssen.


Fortsetzung folgt...