Montag, 4. April 2016

Zwischen den Welten - ein etwas anderer Krimi

Dass es mich nicht mehr gibt, ahnen einige wohl, aber nur einer weiß, dass ich tatsächlich bereits tot bin. Kein Mahnmal weist auf mich hin, kein Kreuz, kein Stein. Nichts, was noch an mich erinnern würde. Aber ich habe noch etwas zu tun, bevor ich diese Welt endgültig hinter mir lasse. Ihr könnt mich Charon nennen.

Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als ihr euch in euren kühnsten Träumen vorstellen könnt. Glaubt mir, ich muss es wissen, denn ich bin genau hier, in der Mitte. Im Nirgendwo. Oder irgendwo dazwischen. Ich bin hier nicht alleine. Davon gehe ich zumindest aus, denn es muss auch andere geben, die sich noch nicht zu ihrer nächsten Station aufgemacht haben.

Nur kann ich sie nicht sehen. So wie ihr auch mich nicht sehen könnt. Aber ich bin da. Ich wandere durch eure Straßen, begleite euch auf eurem Weg ein Stück und denke über das Leben nach, dass ich hätte haben können. Und nach einer Weile begann ich darüber nachzudenken, warum ich mein Leben verloren habe.

Nun, ich habe es nicht wirklich verloren. Es ist mir nicht einfach so abhanden gekommen. Ich hab es nicht irgendwo liegen lassen und vergessen. Wenn man tot ist, dann versteht man endlich den Witz hinter all den Formulierungen, die man als Mensch so sein Leben lang für den Tod gehört, gelesen und benutzt hat. Das Leben verlieren. Aus dem Leben scheiden. Als würde man sich dafür einen Anwalt genommen haben um sich in einer ordentlichen Schlammschlacht mit dem Tod das bestmögliche Ergebnis zu sichern.

Ich glaube, das liegt an der Angst der Lebenden vor der Tatsache, dass sie nicht wissen, was danach mit ihnen geschieht. Ich kann euch sagen, dass ihr keine Angst haben müsst. Der Tod ist ziemlich unspektakulär. Ein bisschen so wie morgens in einem fremden Bett wach werden und nicht wissen, wie man dort gelandet ist, oder was in der Nacht zuvor wirklich passiert ist. Ohne die unangenehmen Kopfschmerzen und diesen ekligen Geschmack auf der Zunge. Aber ansonsten kommt das der Sache schon ziemlich nahe.

Und genau wie nach einem ordentlichen Kater, setzt auch nach dem Tod die Erinnerung nur stückweise wieder ein. Im Falle meines Todes war ich ganz dankbar, dass ich die Wahrheit nur in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert bekam. Ich wurde brutal ermordet. Eine wahre Blutorgie. Da war es besser, dass ich das Gesamtbild aus vielen Puzzleteilen zusammensetzen musste. Und genau darum bin ich noch hier. Ich habe noch etwas zu erledigen. Aber das erwähnte ich ja bereits.

Und jetzt muss ich mich endlich mal darum kümmern, dass jemand meinen Körper findet. Der gammelt jetzt schon fast eine Woche hier herum und das geht ja mal gar nicht. Sieht reichlich bescheiden aus, was da so von mir übrig geblieben ist. Eigentlich kann man sich so nirgendwo blicken lassen, aber damit muss ich wohl leben... also, ich meinte klarkommen. Als Toter hat man es nun wirklich nicht leicht mit den Formulierungen! Jetzt muss ich erst einmal jemanden finden, der mich hier entdeckt.

Kommissar Peter Zufall stieg aus dem Wagen und verließ den Parkplatz in Richtung Kanal. Ein kurzer Blick durch das Blätterdach des Stadtwaldes zeigte ihm, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Er bückte sich unter dem Absperrband hindurch und sah seine Kollegen schon ein Stück weiter bei der Arbeit. Seine Aufmerksamkeit galt zu aller erst dem Chef der Forensik.
„Morgen Dirk, kannst du schon was zur Todesursache sagen?“
„Moin Pitt, mehrere Stichwunden. Drei davon tödlich.“
„Ein Mord am Freitag und schon ist das ganze Wochenende hinüber! Wer hat ihn gefunden?“
Dirk Brünn wies auf einen Sportler, der auf einer Parkbank am Rande des Weges saß und darauf
wartete, endlich vernommen zu werden. Er sah reichlich mitgenommen aus.
„Sie haben die Leiche entdeckt?“
„Ja, ich fuhr hier mit dem Rad und bin irgendwie in einem Ast hängen geblieben und gestürzt. Hinter dem Gebüsch hab ich dann den Körper entdeckt.“
„Die Leiche liegt noch so, wie sie sie gefunden haben?“
„Ja. Ich hab sofort den Notruf gewählt.“
„Ihr Wochenende dürfte wohl auch nicht ganz so verlaufen, wie gedacht. Sollten sie Hilfe brauchen, kann ich ihnen einen Seelsorger oder eine psychologische Betreuung anbieten.“
„Danke.“

Der Kommissar verwies ihn an einen der Polizeibeamten und sah sich den Tatort noch einmal genauer an. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde. Aber außer den Kollegen war niemand zu sehen. Gerade wurde die Leiche in einen Sack gepackt und für den Transport in die KTU in einen Leichenwagen verfrachtet. Dirk Brünn sammelte mit zwei weiteren Forensikern noch einige Beweisstücke ein, da grollte der erste ferne Donner. Der Ermittler machte sich auf zum Präsidium, um sich die Vermisstenfälle anzusehen. Bei der Leiche waren keinerlei persönliche Gegenstände gefunden worden. Auch kein Ausweis.

Ich hatte ganz schön Probleme, jemanden auf meine Überreste stoßen zu lassen. Der Fahrradfahrer war der dritte, dem ich einen Stock zwischen die Speichen geschleudert habe. Dass er dabei allerdings direkt auf mir landen würde, also auf meinem Körper, nicht auf mir, das war nicht beabsichtigt. Ich habe ein paar Tage gebraucht, bis mir klar wurde, dass ich unbelebte Gegenstände bewegen kann. Da hätte ich ruhig ein bisschen früher drauf kommen können, immerhin stamme ich aus der Generation, die Poltergeist im Kino gesehen hat. Den Körper eines anderen Menschen zu besetzen, ist mir bisher noch nicht gelungen.

Wäre ziemlich praktisch, wenn jemand von mir besessen wäre. Wobei ich vielleicht noch nicht lange genug tot bin, um das wirklich zu wollen. Immerhin hätte ich während meiner Phase der Lebendigkeit auch nicht gerne einen fremden Geist in mir gehabt. Selbst jetzt als Toter ist mir dieser Gedanke noch ein bisschen unangenehm. Wahrscheinlich habe ich mich daher auch nicht wirklich angestrengt, bei meinen Versuchen, in einen Jogger zu fahren und ihn über meine Leiche stolpern zu lassen. Die Idee mit dem Ast war aber definitiv die zweitbeste Idee, die mir in dem kleinen Wäldchen gekommen ist. Zumindest kam sie zum gleichen Ergebnis.

Natürlich habe ich mich sofort an Kommissar Zufalls Fersen gehängt. Ich hoffe, dass er besser ermittelt, als es sein Name vermuten lässt. Auf der Fahrt zum Präsidium war ich jedenfalls zum ersten Mal froh, schon tot zu sein. Bei dem Fahrstil hätte ich sonst um mein Leben gefürchtet.

Leicht mürrisch holte sich Peter Zufall eine Tasse Kaffee, die wahrscheinlich seit dem frühen Morgen auf der Warmhalteplatte stand und stark und bitter schmecken würde. Aber genau das brauchte er jetzt. Er hatte eindeutig zu wenig geschlafen und dass ihm diese unbekannte Leiche jetzt auch noch sein erstes freies Wochenende seit Monaten zunichte machen würde, war auch keine besonders belebende Aussicht. Mit finsterer Miene ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Rechner ein.

Der Kaffee hatte etwas von Teer auf seiner Zunge und er war viel zu heiß. Er ignorierte den Schmerz in der Zungenspitze und trank schon aus Trotz sofort noch einen Schluck. Es dauerte ihm schon wieder viel zu lange, bis er nach Vermissten in den Unterlagen seiner Behörde suchen konnte. Er gab die groben Einschätzungen seines Forensikers in die Suchmaske ein und wartete auf ein Ergebnis.

So wird er mich nie finden. Mein Verschwinden hat doch sicher niemand gemeldet. Solange die Miete immer pünktlich auf dem Konto meines Vermieters war, würde der nie auf die Idee kommen, dass mit mir etwas nicht stimmen könnte und das war noch für einige Monate sichergestellt. Und sonst gab es niemanden, der nach mir hätte suchen wollen. Ich gehe mal davon aus, dass die Inhaberin des Kiosks an der Ecke nicht unbedingt die Polizei rufen würde, wenn ich jetzt nicht mehr einmal in der Woche meine Zeitschrift bei ihr kaufte.

Gleiches galt wohl auch für den türkischen Lebensmittelmarkt in der Straße oder auch für die Nachbarn, von denen ich eigentlich außer ihren Lärm generierenden Sexualpraktiken und dem Vornamen des Mannes nicht viel wusste. Dass er Martin hieß, wusste ich nur deshalb, weil seine Frau ihn kurz vor dem Höhepunkt ihrer Bettgymnastik jedes Mal unüberhörbar für die gesamte Nachbarschaft in den Raum schrie.

Während der Computer vor sich hin ratterte, beschloss Peter Zufall, noch einmal in der Pathologie vorbei zu schauen und zu sehen, ob sein Kollege inzwischen ein paar neue Informationen für ihn hatte. Auf dem Flur lief er seinem Chef über den Weg und schaffte es tatsächlich, sich nur mit einem kurzen Nicken an ihm vorbei ins Treppenhaus zu schieben. Auf ein bisschen Smalltalk mit seinem Vorgesetzten konnte er nun wirklich verzichten.

Dirk Brünn wollte sich gerade über die Leiche hermachen, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er sah nur kurz auf und setzte in dem Wissen, seinen Freund damit nicht mehr schockieren zu können, das Skalpell an.
„Du kommst sicher, um mir ein bisschen Druck zu machen, aber noch kann ich dir nichts sagen. Lass mich meine Arbeit hier tun, dann bekommst du auch Ergebnisse.“
Der Sarkasmuss troff geradezu von seinen Lippen.
„Kein Eile, Dirk, ich hatte am Wochenende eh nichts vor.“
„Es war auf jeden Fall Mord. Mehrere Blutergüsse, Abschürfungen, Spuren von Fesselung und Würgemale am Hals. Tödlich dürften aber die drei Stiche sein, die unmittelbar ins Herz gingen. Ach ja, und der Fundort ist sicher nicht der Tatort. Zu wenig Blut im Wald.“
„Du hast ja doch schon was getan.“
Der Forensiker sah ihm empört in sein grinsendes Gesicht und schüttelte resignierend den Kopf. Die beiden arbeiteten seit mehr als 20 Jahren zusammen und waren mehr als nur Kollegen.
„Mach, dass du hier raus kommst, ich hab ein scharfes Messer in der Hand!“
Beide lachten, dann machte sich Kommissar Zufall wieder auf in sein Büro.

Es war ein bisschen gruselig, dem Forensiker dabei zuzusehen, wie er meinen leicht gammeligen Leichnam so ganz ohne jede Regung aufschnitt. Irgendwie war mir das unangenehm und so schaute ich mich ein bisschen in seine Refugium um. Ich war wohl nicht der einzige Tote, der ihm in dieser Woche unter das Messer gekommen war. Hemmungslos nutzte ich meine kürzlich neu erlangte Fähigkeit einfach durch Wände und Türen gehen zu können. Tot zu sein hat durchaus seine Vorteile. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einfach so schweben kann, also nahm ich dann sicherheitshalber doch die Treppe, um wieder nach meinem Ermittler zu sehen.

Nur, wie ich ihn auf die richtige Spur bringen konnte, hatte ich noch nicht wirklich herausgefunden. Dabei hätte es ihm sicher geholfen, meinen Namen zu kennen. Oder zu wissen wo ich wohne. Vielleicht würde es ihm auch helfen, wenn ich ihn an den Ort bringen würde, an dem ich ermordet wurde.

Die Suche hatte keinen Treffer ergeben. Frustriert starrte der Polizist auf den Bildschirm. Keinerlei Anhaltspunkte. Er wusste nicht mal, ob das Ergebnis aus der Pathologie ihn wirklich weiter bringen würde. Und vor Morgen früh würde er das sicher nicht auf dem Schreibtisch haben. An solchen Tagen hasste er seinen Job. Erschrocken hob er den Kopf, als die Türe zu seinem Büro aufging. Aber niemand betrat den Raum. Als er aufgestanden war und aus dem Rahmen der Türe einen Blick in den Flur warf, war auch dieser leer. Verwirrt schloss er die Türe und machte sich daran, einen Bericht zu schreiben, in dem er alle bisherigen Erkenntnisse, so wenig es am Ende dann auch waren, zusammenfasste. Dabei fühlte er sich wieder irgendwie beobachtet. Das Gefühl hatte er auch im Wald und auf der Fahrt ins Präsidium schon gehabt.

Wenn man es gewöhnt war, immer Türen zu benutzen, fällt es einem wirklich verdammt schwer, sie geschlossen zu lassen, nur weil man sich neuerdings einfach so hindurch bewegen kann. Ich habe mich noch nicht so recht dran gewöhnt, aber das wird sicher noch. Einen Augenblick dachte ich, Kommissar Zufalle könne mich sehen. Da er nur Sekunden später einfach durch mich hindurch lief, als er in den Flur sehen wollte, war ich wieder beruhigt. Ist ein komisches Gefühl, wenn man durch einen Lebenden hindurch läuft, oder eben umgekehrt. Es kitzelt ein bisschen.

Natürlich hat der Computer nichts brauchbares ausgespuckt, also werde ich mir etwas einfallen lassen, um meinen grummeligen Kommissar auf die richtige Fährte zu setzen. Angesichts der stark eingeschränkten Mittel die mir zur Verfügung stehen, dürfte das nicht ganz einfach sein. Mal überlegen. Wie bekomme ich ihn in den Hafen?

Da er eh nichts mehr machen konnte, bis er ein paar neue Ansätze bekam, entschloss sich der Kommissar, etwas früher in den Feierabend zu gehen und den Schlaf der letzten Nacht nachzuholen. Er zog sich seine Jacke über und schlich sich aus dem Präsidium zu seinem Wagen. Er hatte mehr Überstunden als alle anderen hier und das Schleichen hatte nichts mit einem schlechten Gewissen zu tun. Er hatte nur keine Lust, seinem Chef über den Weg zu laufen. Der würde ihn nur wieder nach einem neuen Partner fragen und den wollte er eigentlich lieber gar nicht mehr haben.

Es waren nur noch 3 Jahre bis zu seinem Ruhestand und in denen wollte er sich nicht noch einmal an die Marotten eines neuen Partners gewöhnen müssen. Er hatte schon genug eigene, die reichten allemal. Natürlich galt er im Präsidium als der einsame Wolf, aber dass machte ihm nicht aus. An den meisten Tagen fühlte er sich eher geschmeichelt,wenn er so genannt wurde. Auf dem Weg zu seiner Wohnung hielt er am Drive-In eines Schnellrestaurants und gönnte sich einen Burger, Pommes und eine Cola. So sparte er sich wenigstens das Kochen.

Er warf die Papiertüte mit seinem Abendmahl auf den Beifahrersitz und nestelte während der Fahrt bereits nach dem darin liegenden Hamburger. Nach dem ersten Biss in das pappige Brötchen mit der lauwarmen Hackfleischplatte fühlte er sich schon ein bisschen besser und grunzte zufrieden. Für die Cola hatte er keine Hand frei, die würde genau wie die Pommes noch bis zu seiner Ankunft in seiner kleinen privaten Höhle warten müssen.

Ich war erschrocken auf dem Sitz zusammengezuckt, als er die Tüte mit seinem Abendbrot auf meinen Schoß warf. Erst als die Papiertüte widerstandslos durch meine Oberschenkel sackte, fiel mir wieder ein, dass ich tot war. Ein bisschen unangenehm war es, als er nach dem Hamburger suchte. Wäre ich noch am Leben gewesen, hätte seine Hand sich an einer recht pikanten Stelle zu schaffen gemacht. Ich musste grinsen, als ich darüber nachdachte und beinahe hätte ich laut aufgelacht.

Er kaute zufrieden an seinem Burger und wir fuhren immer weiter in die Außenbezirke. Das Wohnumfeld wurde immer schlechter. Scheinbar sind Kommissare hoffnungslos unterbezahlt und müssen in den übelsten Gegenden der Stadt siedeln. Vielleicht war es auch nur so eine Art Nähe zu seiner üblichen Klientel, die ihn gerade hier direkt hinter dem Rotlichtviertel wohnen ließ. Auf jeden Fall hielt er vor einem ziemlich heruntergekommenen Haus in einer Sackgasse.

Ich musste mich richtig anstrengen, mit ihm Schritt zu halten und huschte gerade noch so durch die Türe, bevor sie ins Schloss fiel. Seine Wohnung war ähnlich trostlos wie seine Nachbarschaft. Nur das allernötigste, keinerlei Luxus. Die typische Wohnung eines verschrobenen Junggesellen. Wenn ich nicht wüsste, dass er Polizist ist, könnte ich auch denken, ich befinde mich in der Wohnung eines psychopathischen Massenmörders.

Zumindest erweckte der reichlich unaufgeräumte Schreibtisch im Wohnzimmer den Eindruck. Die Wand dahinter war mit Tatortfotos und Zeitungsberichten tapeziert. Damit werde ich mich später beschäftigen. Immerhin braucht man als Toter keinen Schlaf und damit habe ich die Nacht über genug zu tun. Ich sah mich weiter in der Wohnung um. Die Küche ist nur eine kleine Kochnische und in der Spüle stapelt sich das Geschirr von mindestens 3 Tagen.

Das Schlafzimmer besteht nur aus einem schmalen Bett und einem alten Kleiderschrank, der scheinbar nur noch vom Lack zusammengehalten wird. Die ganze Wohnung hatte den Charme einer Gefängniszelle. Auf dem Wohnzimmerschrank stand ein vergilbtes Familienfoto aus besseren Tagen. Zumindest weiß ich jetzt, dass mein Kommissar nicht immer allein war. Und mir wird langsam klar, warum er so spartanisch wohnt. Und ich ahne auch, woran diese Beziehung zerbrochen ist.

Er ließ sich auf sein Sofa fallen, griff nach der Fernbedienung und schaltete einmal durch alle Kanäle auf der Suche nach ein bisschen Zerstreuung. Der Burger war auf der Fahrt schon fast verschlungen, also griff er sich die Pommes aus der Tüte und schlürfte lautstark an seiner Cola. Hier musste er auf niemanden Rücksicht nehmen. Er wohnte schon seit Jahren alleine und hatte auch nicht vor, daran noch etwas zu ändern.

Seine Frau hatte eines Tages die Koffer gepackt und das Haus am Stadtrand, dass sie kurz nach der Hochzeit gekauft hatten, fluchtartig verlassen. Seine Kinder waren damals längst zuhause ausgezogen und so blieb er alleine in einem viel zu großen Haus, in dem er sich nie wirklich heimisch gefühlt hatte. Die Scheidung verlief reibungslos und er entschloss sich, das Haus zu verkaufen, um damit einen Teil des Unterhaltes für seine Frau zu stemmen. Die Wohnung in der er jetzt lebte, war eigentlich nur eine Notlösung, weil die Interessenten für sein Vorstadthäuschen schneller gefunden waren, als er sich das gedacht hatte.

Er lebte jetzt seit mehr als 10 Jahren hier und hatte sich mit der Situation arrangiert. Spätestens nach dem tragischen Tod seines langjährigen Partners Sven Meyer hatte er alle Energie verloren, an seinem Leben noch etwas zu ändern. Mit seiner Frau hatte er seit der Scheidung kein Wort mehr gesprochen. Seine Tochter hatte ins Ausland geheiratet und lebte jetzt mit ihrem Mann und dem Enkel in Toronto. Sein Sohn hatte sich auf die Seite seiner Frau geschlagen und den Vater vom Tag der Scheidung an einfach aus seinem Leben gestrichen.

So war er auf seine alten Tage noch einer der Top-Ermittler der Polizeidirektion Nord geworden. Er lebte einzig noch für seinen Job und da er nichts anderes mehr hatte, für das er seine Zeit und Energie opfern konnte, wurde er ziemlich gut darin, Verbrecher zur Strecke zu bringen. Der einzige Mensch, den er wirklich an sich heran gelassen hatte, war sein Partner Sven. Als dieser bei einem Einsatz erschossen wurde, hatte ihn das tiefer getroffen als die Scheidung von seiner Familie. Und das war auch einer der Gründe, sich einem neuen Partner zu verweigern. Noch einmal alles umwerfen, neu anfangen, sich arrangieren, das alles wollte er nicht mehr.

Er sammelte die Reste seines Essens ein, schaltete frustriert den Fernseher aus und warf auf dem Weg ins Bad die Verpackungen in den Mülleimer. Er freute sich auf eine ausgiebige, heiße Dusche und würde danach in sein Bett verschwinden. Er drehte das Wasser auf und begann sich auszuziehen. Sein Telefon und Handy hatte er vorsorglich ausgeschaltet. Heute Abend wollte er nicht mehr gestört werden.

Ich beugte mich über den Schreibtisch. Im Hintergrund hörte ich das Geräusch des Fernsehers, einzelne Wortbrocken, Musik, Werbejingles. Wenn ich mich nur hinsetzen könnte, aber den Stuhl bewegen wollte ich nicht, so lange er noch im Raum war. Mir wurde schnell klar, dass diese ganzen Fotos, Zeitungsausschnitte und Ausdrucke von Fahndungsdateien etwas ganz persönlich mit meinem Kommissar zu tun haben mussten. Aber ich brauchte eine Weile, um aus den einzelnen Teilen das große Ganze zu extrahieren.

Sehr hilfreich war einer der Artikel. „Ermittler der Kripo stirbt bei Einsatz im Hafengebiet.“ Das war also der Partner meines Kommissars gewesen. Ein guter Freund, wie ich annahm und ein unerledigtes Kapitel in seinem Leben. Ganz offensichtlich hatte man den Schützen nicht festnehmen können. Eine halbe Stunde später wusste ich, dass man ihn nicht einmal eindeutig identifiziert hatte. Wenn er das nicht bald lösen würde, könnte Peter Zufall bald ziemlich genau in der gleichen Lage sein wie ich es gerade bin. Man kann nicht loslassen, wenn man etwas unerledigtes in dieser Welt zurücklassen würde. Wenn er meinen Tod aufklärte, würde ich ihm helfen, seine ungelösten Probleme zu beseitigen.

Ich schaute kurz auf, als ich die Badezimmertüre hörte. Vor sich hin summend und leider auch vollkommen unbekleidet wanderte Kommissar Zufall an mir vorbei in Richtung Schlafzimmer. Manche Details über meinen Schützling hätte ich wirklich nicht kennen müssen. Aber sein mangelndes Feingefühl will ich ihm mal nicht ankreiden, immerhin glaubt er noch immer, alleine hier zu sein. Wenn ihr also gerne nackt durch eure Wohnung lauft, denkt an uns arme Tote. Das würde uns viel Elend ersparen.

Nach der Dusche ging es ihm schon wieder viel besser. Jetzt noch ein bisschen Schlaf und er würde den Samstag Morgen mit einer ganzen Menge mehr Elan angehen könnte, als er das am heutigen Morgen nach durchzechter Nacht getan hatte. Er hatte auch heute kurz überlegt, noch auf ein oder zwei Bier in die Kneipe an der Ecke zu gehen, aber da wartete ein unbekanntes Mordopfer auf ihn und dafür würde er seine ganze Kraft und Aufmerksamkeit brauchen. Immerhin war er keine 20 mehr und hatte schon von einem leichten Kater deutlich länger als früher.

Sein Blick fiel auf den Schreibtisch und er hatte das Gefühl, als lägen die Unterlagen nicht mehr so, wie er sie hinterlassen hatte. Beunruhigt schaute er sich genauer um, überprüfte die Türe und alle Fenster, stellte aber beruhigt fest, dass sie alle verschlossen waren und auch keine Einbruchsspuren aufwiesen. Wahrscheinlich hatte der ganz in Gedanken selbst in seinen Unterlagen gestöbert. Einen Augenblick dachte er daran, die Sachen wieder zu Ordnen, aber heute wollte er sich nicht mit dem beschäftigen, was seinem Partner Sven Meyer geschehen war. Das musste warten. Sein aktueller Fall ging vor.

Er löschte das Licht und schloss die Schlafzimmertüre hinter sich. Das Bett wartete schon auf ihn und es dauerte nur wenige Minuten, bis er sanft ins Traumland glitt. Er fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Statt weiter in seinen Unterlagen zu stöbern, blieb mir nichts anderes übrig, als mir die Umgebung mal etwas genauer anzusehen. Denn auch wenn man tot ist, funktioniert das mit dem Lesen im Dunkeln nicht und das Licht einfach wieder einzuschalten hielt ich für ein bisschen zu offensichtlich. Immerhin war ihm schon aufgefallen, dass ich einige der Unterlagen verschoben hatte. Er war sehr aufmerksam, scheinbar hatte ich Glück, dass ich auf dem Schreibtisch eines alten Hasen wie Herrn Zufall gelandet war.

Und ich war ganz froh, dass es nicht sein privater Schreibtisch war, denn alles in allem war das schon ein bisschen beängstigend mit einem Hang zur Besessenheit. Aber auch das mochte seine Vorteile haben, wenn es darum ging, sich auf die Fährte meines Mörders zu begeben.

Das Viertel in dem die Wohnung lag, hätte ich als lebender Mensch nach Einbruch der Dunkelheit wohl eher gemieden. An der nächsten Straßenecke kann man schon die ersten Damen des horizontalen Gewerbes ihrem Job nachgehen sehen und auch der Rest der Gegend macht eher den Eindruck eines kriminellen Krisenherdes. Direkt vor meinen Augen wechselten ein paar kleinere Drogenpäckchen den Besitzer und bei dem, was in einem der kleinen Ramschläden auf der Hauptstraße angeboten wurde, handelte es sich mit Sicherheit um Hehlerware.

Wirklich eigenartig, dass es einen Polizisten ausgerechnet in diese Gegend verschlagen hat. Das Leben steckt schon voller eigenartiger Dinge. Zugegeben, der Tod hat auch einige Überraschungen auf Lager, aber verglichen mit dem Leben - oder soll ich es Schicksal nennen? - war der Tod ein blutiger Anfänger. Aber das werdet ihr ja alle früher oder später noch feststellen können.

Der Wecker klingelte viel zu früh. Noch immer nicht mit genügend Schlaf versehen, stieg der Kommissar leicht missmutig aus dem Bett. Er brauchte dringend einen Kaffee. Vorher hielt er sich schon aus reiner Freundlichkeit gegenüber der restlichen Menschheit von anderen fern. Dass er ein Morgenmuffel war, hatte ihm seine Frau bei der Scheidung unter die Nase gerieben. So wie sie ihm alles unter die Nase gerieben hatte, was sich in den Jahren ihrer Ehe aufgestaut hatte. Dabei war auch sie alles andere als einfach.

Barfuß schlurfte er in Richtung Kochnische und zupfte dabei seine Unterhose wieder in eine einigermaßen bequeme Position. Noch immer im Halbschlaf löffelte er Kaffeemehl in den Filter und füllte die Maschine mit Wasser. Als er die Maschine einschaltete, gab es einen Knall, es roch verbrannt und er stand im Dunkeln. Fluchend zog er den Stecker und beschloss, auf das Frühstück zu verzichten. Sein Weg führte ihn direkt ins Bad und wenig später dann ins Präsidium, wo er sich zumindest den dringend benötigten Kaffee verschaffen konnte.

Leider schaffte er es nicht ungesehen in sein Büro und musste natürlich ausgerechnet seinem Chef über den Weg laufen.
„Zufall, gut, dass ich sie treffe! Keine Sorge, ich werde ihnen nicht schon wieder mit dem Partner auf den Wecker gehen. Aber so ganz alleine werden sie nicht arbeiten können. Ich hab da einen jungen, vielversprechenden Kollegen aus Stuttgart an der Hand, der gerne mal in unsere Mordkommission reinschnuppern würde. Er kommt heute Nachmittag und wird bis auf weiteres ihr Begleiter sein.“
Er wollte gerade den Mund öffnen, um darum zu bitten, diesen Kelch an ihm vorüber ziehen zu lassen, aber sein Chef war nicht erst seit gestern sein Vorgesetzter und nahm ihm schnell den Wind aus den Segeln.
„Sie sind der beste, den wir haben, Sie werden damit leben müssen, dass ich mit Ihnen angeben will. 14 Uhr wird der Kollege eintreffen. Lassen Sie ihn ruhig mal sehen, wie ein alter Hase das macht!“
Und damit stand er alleine im Flur. Ja, heute war eindeutig sein Glückstag. Das wusste er spätestens, als er den spärlichen Rest Kaffee sah, der so eben den Boden seiner Tasse bedeckte. Mit einem Schulterzucken, setzte er eine neue Kanne auf und blieb daneben stehen, bis das schwarze, duftenden Getränk fertig durch den Filter gelaufen war. Der erste Schluck, heiß wie Lava, aber genau das, was er schon den ganzen Morgen gebraucht hätte, versöhnte ihn ein bisschen mit dem Tag. Immerhin hatte der noch eine kleine Chance besser zu werden.

Beinahe hätte ich ihn verpasst. Ich konnte so gerade noch zu ihm ins Auto springen, bevor er zur Arbeit fuhr. Mein Ermittler ist ein wahrer Ausbund an Fröhlichkeit heute. Irgendeine Laus muss ihm schon beim Frühstück über die Leber gelaufen sein, aber da war ich noch damit beschäftigt, beim Bäcker ums Eck dem Tratsch zu lauschen.

Ich hatte in meinem Leben einige Taxi-Fahrer kennen gelernt, die gesitteter fuhren als Peter Zufall. Drei Beinahe-Unfälle, einiges Hupen und sicherlich deutlich mehr Flüche der anderen Autofahrer sind die Bilanz der wenigen Kilometer zu seiner Dienststelle. Wenn man tot ist, gewöhnt man sich eine geradezu buddhistische Ruhe an. Was soll einem schon passieren? Toter als tot geht nicht. Trotzdem war es gut, den Parkplatz zu erreichen.

Soll er sich seinen Kaffee holen, ich werde mich mal ein bisschen in seinem Büro umsehen. Chaos würde ich das nicht nennen, eher organisiertes Durcheinander, aber zumindest liegt meine Akte ganz oben auf dem Stapel. Nur, wie ich ihn meinen Namen herausfinden lassen soll, weiß ich noch immer nicht wirklich. Vielleicht wäre es einfacher, ihn zu meiner Wohnung zu führen, aber auch dafür hatte ich noch nicht die richtige Vorgehensweise gefunden. Wie gesagt hatte ich das mit dem Besessen-Sein noch nicht ganz raus.

Er inhalierte den belebenden Duft, der sich aus seiner Tasse um seine Nase kräuselte und wäre vielleicht schon fast zu einem Lächeln bereit gewesen, aber dann sah er, dass ihm sein Chef ein kleines Präsent auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er setzte sich auf seinen Stuhl und stellte die Tasse auf den Tisch. War eh besser, wenn der Kaffee ein bisschen abkühlen würde. Er schob die Akte des Mordfalles zur Seite und sah sich den Lebenslauf an, den sein Chef ihm hinterlassen hatte. Sein Besucher für den Nachmittag hieß Cornelia Röbel. Irgendwie wollte der Tag seine Chancen nicht nutzen.

Seine Ablehnung schwand allerdings, nachdem er sich ein bisschen intensiver in die Unterlagen eingelesen hatte. Ja, die junge Dame schien wirklich den richtigen Riecher fürs Verbrechen zu haben, auch wenn er es nie zugegeben hätte, war er von der Liste der gelösten Fälle wirklich beeindruckt. Vielleicht würden die nächsten Tage doch besser werden als er befürchtet hatte.

Ich las über seine Schulter mit. Interessante Aussichten. Zwei echte Profis, um meinen Mord aufzuklären. Klingt fast wie ein Sechser im Lotto. Immerhin wird es für die beiden noch einiges zu tun geben. Und da kommt ja auch schon der Forensiker mit meinem Autopsiebericht, jetzt wird es spannend.

Dirk Brünn hatte sich dazu entschlossen, seine Katakomben zu verlassen und seinem Freund den Bericht persönlich auf den Schreibtisch zu legen. Er betrat das Büro ohne anzuklopfen und ließ sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch fallen, während er seinem Kollegen die Dokumente zuwarf.
„Hier, hab extra für dich Überstunden gemacht. Ziemlich harter Tobak, Peter. So viele Verletzungen habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Unser Unbekannter hat einen erschreckend schmerzhaften Tod gehabt.“
Peter sah ihn fragend an.
„Die Stichwunden. Die waren zwar das, was ihn am Ende umgebracht hat, aber die restlichen Verletzungen... die stammen alle von den Stunden vor dem Tod. Und der Wald ist definitiv nur der Ablage-Ort. Bei all dem Blut, dass da geflossen ist, muss der Tatort woanders liegen.“
Der Kommissar blätterte durch den Bericht und studierte ausgiebig einige der Fotos, die den Unterlagen beigefügt waren.
„Das sieht wirklich übel aus. Eher nach einer langsamen Hinrichtung, nach Folter. Da draußen ist ein Irrer unterwegs und ich hab nicht den geringsten Anhaltspunkt, wer unser Opfer eigentlich ist.“
Verärgert warf er die Fotos auf den Tisch und sammelte sie gleich wieder ein, um sie zur restlichen Fall-Akte zu legen.
„Danke, Dirk. Du hast nicht zufällig eine Ahnung, wie ich an seine Identität kommen könnte?“
Der Forensiker schüttelte den Kopf.
„Nein, keine Prothesen, keine künstlichen Gelenke oder Knochen. Absolut nichts auffälliges. Tut mir Leid.“
Er beugte sich nach vorne und schob die Unterlagen zur Seite, um sich sehr zielstrebig den Lebenslauf zu greifen.
„So, so, da bekommst du heute also Damenbesuch.“
Er grinste.
„Ja. Und werde mich gleich blamieren, weil ich eine Leiche habe, aber weder einen Namen, noch einen Tatort, von einem.Verdächtigen mal gar nicht zu reden.“
Der Forensiker zuckte mit den Schultern und stand auf. Er verabschiedete sich noch von seinem Freund und stieg wieder hinab in das Reich der Toten.

Peter Zufall legte seine Unterlagen zusammen und entschloss sich spontan, wenigstens für ein bisschen Ordnung zu sorgen, bevor sein Gast kam. Den zweiten Schreibtisch hatte er nach Svens Tod lange unberührt gelassen, doch inzwischen diente er als Lagerplatz für seine Unterlagen. Das musste er auf jeden Fall noch ändern, denn wenn diese Kollegin eine Weile blieb, würde sie einen Arbeitsplatz brauchen und bei dem Fall würde er heute keinen Schritt weiterkommen.

Irgendwie hatte ich nicht den Eindruck, dass mein Mord je aufgeklärt würde, aber hier rumhängen und ihm beim Aufräumen zusehen? Das muss ich mir auch nicht antun. Vielleicht würde es mir helfen, mich an die Fersen meines Mörders zu heften. Dabei hilft mir übrigens ein weiterer Vorteil den der Tod mit sich bringt. Man bekommt eine Art... sagen wir mal Lebens-Radar. Ich muss nur an jemanden denken, und weiß sofort, wo ich ihn zu suchen habe. Ist ganz schön praktisch manchmal. Nur die Reise dorthin kann ein bisschen unangenehm sein.

Ich kann mich innerhalb von Sekunden an die richtige Stelle begeben, allerdings muss ich dazu in direkter Linie durch alles hindurch, was im Weg liegt. Wände, Bäume, Autos, Menschen. Das ist nicht wirklich angenehm, weshalb ich meist den Weg nehme, den ich auch im Leben genommen hätte. In diesem Fall aber, werde ich den direkten Weg nehmen müssen.


Fortsetzung folgt...

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