Dienstag, 15. Juli 2014

In der Tiefe

Ich war mitten in der kleinen Ruine auf der Waldlichtung über die Stufen gestolpert. Es gab einen Zugang zu den Kellern. Doch er war mit Schutt und Erde bedeckt und so musste ich ihn erst mühsam wieder freilegen. Es dauerte fast einen Monat, bis ich es geschafft hatte, alle Steine, Balken und Erdbrocken von der Öffnung zu räumen. Ich war vorsichtig gewesen, hatte weder großes Werkzeug noch andere Männer zur Hilfe genommen und Stein für Stein die verwitterten, zerbrochenen Stufen freigelegt. Ich hoffte auf eine lohnenswerte Entdeckung in den vielleicht noch erhalten gebliebenen Kellern der alten Abtei. Dabei wollte ich keine Zeugen, niemanden, mit dem ich am Ende meine Schätze teilen musste.

Es waren noch ein oder zwei Stunden Tageslicht übrig geblieben, als ich den Zugang so weit von den Abbruchresten befreit hatte, dass ich mich in den Untergrund wagen konnte. Doch ich musste mich noch einen Tag gedulden. Ich hatte zwar eine Schaufel und eine Hacke dabei, aber weder Fackel noch Laterne oder einen Beutel für die Funde, die ich zu machen hoffte. Ich sammelte im Wald einige halb vermodert Äste und Zweige und bedeckte damit den jetzt leicht zu findenden Eingang.

Die Nacht war unruhig und ich wälzte mich in kaum zu zügelnder Vorfreude und banger Hoffnung in meinem Bett hin und her ohne wirklich Ruhe zu finden. Vor dem ersten Hahnenschrei war ich auf den Beinen, packte eine kleine Mahlzeit und einen Leinensack in meinen Beutel, nahm eine Laterne und mein Feuerzeug mit und machte mich auf in den Wald. Eine Stunde brauchte ich bis zum Waldrand und eine weitere halbe Stunde um auf versteckten Wegen und Wildwechseln bis zu der Ruine zu gelangen. Die Kapelle war eine der wenigen Steinbauten des Klosters gewesen. Die Holzhütten der Mönch waren längst zu Staub und Erde zerfallen, nur das Fundament der Klosterküche, des Backhauses und die Ruinen der verlassenen Kapelle waren im Dickicht des Waldes überhaupt noch auszumachen.

Die Sonne war gerade erst über den dichten Baumkronen zu sehen, als ich die Lichtung erreichte. Die Äste bedeckten noch immer unberührt den Eingang zu den Gewölben unter der Kapelle. Ich zog sie zur Seite und entzündete die Laterne, bevor ich mich vorsichtig über die in den Jahren zerfallenen Stufen in die Tiefe arbeitete. Die Treppe führte geradewegs in die Kühle der Erde. An ihrem Fuß konnte ich den Einstieg in diese Unterwelt gerade noch als einen silbrigen Lichtschimmer erkennen, vor mir lag ein langer, dunkler Korridor. Doch das Licht der Laterne reichte nicht bis zu seinem Ende.

Vorsichtig folgte ich den meist zerbrochenen Bodenplatten durch das kalte und unheimliche Gewölbe, das bisher an keiner Seite eine Tür oder einen Abzweig gezeigt hatte. Ich drehte mich noch einmal um, konnte die untersten Stufen der Treppe gerade noch im Licht der Laterne erkennen. Vor mir blieb das Ende des Ganges noch immer unsichtbar. Ich tastete mich unsicher an den klammen Wänden entlang, spürte ihre eisige Kühle unter meinen Fingerspitzen und bemühte mich im Lichtkegel der Laterne zu erkennen, wo der Gang enden würde.

Ich kam nur langsam voran, an einigen Stellen waren Steine aus dem Gewölbe gebrochen. Ich machte mir ernsthafte Sorgen, dass der Gang vor mir irgendwo bereits ganz eingefallen sein könnte und mir den Zugang zu den Katakomben verwehren würde. Ich stieg über zerbrochene Steine, watete durch Pfützen und Schlammlöcher und machte mir zu ersten Mal Gedanken darüber, dass ich den Platz an dem das Kloster einst stand längst hinter mir gelassen haben musste. Warum hatte man diesen Gang angelegt und wo führte er hin.

Langsam wurde mir meine eigene Reise unheimlich und ich spielte gerade mit dem Gedanken, wieder zurück ans Licht zu gehen, als der Gang direkt vor mir einen scharfen Knick nach links machte. Die Neugier siegte über mein Unbehagen und ich folgte dem Gang weiter in die Tiefe. Er hatte ein leichtes Gefälle, war aber deutlich besser erhalten als es der Weg bis hierher gewesen war. Die Wände waren auch trockener und irgendwo her musste Frischluft kommen, denn der leicht modrige Geruch der Erde wich dem Geruch des Wassers. Mir wurde wieder leichter ums Herz, auch wenn eine Rückkehr an die Oberfläche natürlich bedeuten würde, dass ich mit leeren Händen zurückkehren würde und die ganze Arbeit der vergangenen Tage völlig sinnlos gewesen war. Unbewusst strich ich mit den Fingern über die Schwielen an meinen Händen. Ich hatte hart gearbeitet, um hier her zu gelangen.

Einen kurzen Moment glaubte ich Schritte hinter mir zu hören. Erschrocken blieb ich stehen und lauschte. Nichts. Hatten die Wände nur das Tappen meiner eigenen Schritte zurückgeworfen? Vorsichtig setzte ich einen Fuß vor den anderen und schlich ein bisschen weiter. Erst als ich wieder normal ging, kamen die Geräusche wieder. Es mussten meine eigenen Schritte sein, die in dem dunklen Korridor so unheimlich hallten.

Der Gang endete an einer weiteren Treppe. Ein steinerner Türrahmen mit Resten eines eisernen Scharniers zeigte mir, dass dieser Bereich einmal verschlossen gewesen sein musste. In der gegenüberliegenden Steinsäule konnte man noch die Vertiefungen erkennen, in die einmal die schweren Riegel griffen die den Zugang verschlossen. Einzelne Holzreste konnte ich bei genauem Hinsehen noch auf dem Boden des Ganges und den obersten Stufen, der in einer Rundung nach rechts verlaufenden Treppe erkennen.

Ich folgte den Stufen weiter nach unten. Nah wenigen Schritten konnte ich vor mir einen Lichtschimmer ausmachen, aber so tief wie ich unter der Erde war, konnte das nicht sein. Ich tastete mich weiter vor und tatsächlich, in der inneren Rundung der Treppenwände gab es ein kleines Fenster. Drei schmale Säulen trugen zwei Steinbögen, die nicht mehr als eine Spanne groß waren. Gierig atmete ich die frische Luft ein und warf einen Blick in das offene Rund, um das sich die Treppe zu schlängeln schien.

Ich dachte sofort an einen Brunnenschacht, als ich nach oben sah. Dort konnte ich weit über mir ein kreisrundes Loch erkennen, durch das einige wenige Lichtstrahlen den Weg nach hier unten fanden. Am Rand ragten einige Zweige über die gemauerte Einfassung dieses Brunnenlochs, darüber leuchtete der Mond. Konnte es wirklich sein, dass ich schon so lange unter der Erde war, dass ein ganzer Tag vergangen war? In der gegenüberliegen Wand konnte ich ein Stück weit unter mir ein weiteres Fenster erkennen. Ich beschloss also der Wendeltreppe weiter nach unten zu folgen.

Bis die Treppe ein Ende erreichte und vor einer schweren Holztüre endete, kam ich noch an sieben anderen dieser Fenster vorbei und der Blick daraus in das Innere des Schachts zeigte mir, dass ich inzwischen zu tief unter der Erde war, um noch vom Licht des Mondes erreicht zu werden. Dort war es nur noch dunkel. Die Türe vor mir war verschlossen. Ich leuchtete mit meiner Laterne ein bisschen genauer hin und fand einen Riegel, der sich sehr viel einfacher bewegen ließ, als ich erwartet hatte. Auch das Holz der Türe schien noch immer vollkommen in Ordnung zu sein.

Die Türe schwang langsam, aber ohne größere Schwierigkeiten in einen großen Saal auf, dessen gewölbte Decke von dicken Säulen getragen wurde. Der Raum war etwa doppelt so lang wie breit und in gutem Zustand. Der Boden bestand aus bemalten Kacheln und hatte ein Muster aus Blättern und Zweigen. Das Licht meiner Laterne warf unheimliche Schatten der Säulen auf Decke und Wände, ich hatte das Gefühl beobachtet zu werden, denn ich konnte wegen der Steinsäulen nicht jeden Winkel des großen Raumes sehen. Ich hielt den Atem an und lauschte.

Stille. Meine Sinne hatten mir sicher nur einen Streich gespielt. Oder war mir doch jemand gefolgt? Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken und ich lehnte mich Halt suchend an eine der Säulen. Erst jetzt sah ich, dass die Kapitelle der steinernen Stützen mit schrecklich verzerrten Tierköpfen verziert waren. Der Anblick hatte mich so erschrocken, dass mein Herz aus meiner Brust zu springen schien. Ich versuchte mich zu beruhigen, doch das Spiel der Schatten auf den Köpfen gaukelte mir immer wieder vor, dass die verstörenden Fratzen lebendig waren. Ich war kurz davor, einfach wieder umzukehren, da entdeckte ich eine Türe, die bisher von den Säulen verborgen worden war.

Erleichtert stieß ich sie auf und gelangte in einen weiteren Flur. Doch dieser hatte nicht mehr das Aussehen eines gemauerten Stollens. Viel mehr fühlte ich mich wie in einem herrschaftlichen Haus. In einigen Halterungen an der Wand hingen Fackeln. Nach einer kurzen Überprüfung stellte ich fest, dass sie trocken und noch brauchbar waren und entschloss mich dazu wenigstens zwei davon zu entzünden. Sobald aus dem zuerst nur zögerlichen Flackern eine ordentliche Flamme geworden war, konnte ich vor Staunen keinen Schritt mehr tun.

Die Decke hatte ein dunkles Nachtblau und funkelte von goldenen Sternen. Aufwändig gemeißelte Pilaster unterbrachen die glatte Wand in regelmäßigen Abständen. Eine in Stein gehauene Eichenzweiggirlande zog sich die gesamte Decke entlang. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich kleine Vögel zwischen den Blättern und meine Sinne spielten mir einen Streich, denn ich glaubte das Zwitschern hören zu können. Doch die Vögel waren wie die Girlande aus Stein und leblos.

Wer hatte diesen verborgenen Palast angelegt? Warum führte eine Treppe aus einem verfallenen Kloster hierher? Ich folgte dem Gang weiter, stieß auf mehrere verschlossene Türen, konnte jedoch keine öffnen. Erst bei der achten Türe hatte ich Glück. Sie ließ sich mit ein wenig sanfter Gewalt öffnen. Die Kerze in meiner Laterne war inzwischen erloschen, also blieb mir nichts anderes übrig als eine der Fackeln zu nehmen und mich durch den Türrahmen zu schieben.

Wieder öffnete sich ein großer Saal vor mir. Er war mehrere Stockwerke hoch und von einer Säulenreihe umgeben, der eine Empore trug, die drei Seiten des Raumes einnahm. An der Stirnseite, der Türe genau gegenüber gab es eine weiter Empore, allerdings nur drei Stufen höher als der restliche Saal. In den Ecken neben der Türe gab es zu beiden Seiten eine Wendeltreppe, die ganz offensichtlich den Zugang zu dem umlaufenden Gang in der zweiten Etage führte. Es gab keinerlei Möbel oder Schmuck. Der Stein der Säulen jedoch war poliert, bis er glänzte. Der Raum war Ehrfurcht gebietend, ein Thronsaal ohne Thron, doch ganz offensichtlich ein Raum, der der Verehrung einer Person gewidmet war.

Das Licht der Fackel reichte nicht bis zur Decke des Saales, dennoch konnte ich in ihrem Dämmerlicht die Ausmaße des gesamten Raumes erfassen. Welche Feste mussten hier gefeiert worden sein! Auch hier fand ich mehrere noch brauchbare Fackeln und entzündete sie. In ihrem Licht wurde der Raum immer deutlicher sichtbar. Und er beeindruckte durch seine Schlichtheit viel mehr, als es ein üppig geschmückter Raum getan hätte.

Ich stieg die Stufen am Ende des Raumes empor und schaute zurück auf den Saal und die große Empore. Auf ihr mussten Höflinge gestanden haben während dort wo ich mich gerade befand einmal ein Thron gestanden haben musste. An der Rückwand gab es eine weitere Türe, sie stand offen und gab den Blick auf einen kleineren Raum frei, der wie der zentrale Flur einer ganzen Wohnung wirkt. In allen seinen Wänden gab es mindestens eine Türe. Die meisten konnte ich ohne Werkzeug nicht öffnen, dich ich hatte längst beschlossen, später noch einmal mit den passenden Werkzeugen zurück zu kommen. Dieser unterirdische Palast faszinierte mich und ich wollte ihn vollständig erkunden.

Ich verließ den Thronsaal wieder, suchte den Weg zurück in den ersten Saal, aber welche Türe im Korridor ich auch öffnete, den Saal konnte ich nirgendwo finden. Langsam geriet ich in Panik. Ich war hier viele Meter weit unter der Erde und niemand wusste überhaupt, wohin ich am Morgen aufgebrochen war. Niemand würde mich hier suchen. Nach einer Weile panischen Suchens, wurde mir klar, dass ich nicht einmal mehr wusste, welche Türen ich schon geöffnet hatte und welche noch nicht. Ich machte an jede Türe die ich geöffnet hatte mit einer der noch nicht entzündeten Fackeln ein deutliches Kreuz mit der schwarz verkohlten Spitze. Der Korridor war länger als ich erst angenommen hatte und die Türen nahmen kein Ende. Doch hinter den meisten befanden sich nur kleine Zimmer ohne weitere Türen oder Gänge.

Mit jeder neuen Türe klammerte sich die Verzweiflung stärker um mein Herz. Irgendwo musste doch der Raum mit den schrecklichen Tierköpfen sein. Die nächste Türe. Wieder nichts. Das Kreuz gemacht und weiter. Mit Wucht warf ich mich gegen die verklemmte Türe. Ächzend gab sie nach, doch auch hier gab es nichts als einen kleinen unscheinbaren Raum. Kalte Angst umklammerte meine Brust und langsam begannen die letzten Fackeln zu verlöschen. Würde ich in völliger Dunkelheit einen Ausweg finden können? Ich hatte es ja auch schon im flackernden Licht der Fackeln bisher nicht gefunden.

Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, auch wenn ich daran zweifelte, dass es hier, so tief unter der Erde und so nah an den Pforten der Hölle überhaupt gehört werden konnte. Türe um Türe arbeitete ich mich weiter voran, dann begann auch die letzte Fackel zu flackern und wurde immer dunkler. Verzweifelt stieß ich eine weitere Türe auf und sah im letzten Schein der verlöschenden Fackel eine Stufe. Danach stand ich in völliger Schwärze.

Auf allen Vieren tastete ich mich die Stufen hinauf. Stolperte mehr als zu laufen, schürfte mir Arme und Schultern an den rauen Steinen der Wände auf, aber alles woran ich noch dachte war: raus, nach oben, ans Licht! Ich tapste endlos durch eine Dunkelheit, die mich immer mehr zu verschlingen drohte. Ich glaubte gehässiges Gelächter zu hören und kletterte in Panik weiter die zerfallene Treppe hinauf. Ich spürte sie in meinem Rücken, sie kamen näher, sie würden mich einholen und zurück in die Tiefe zerren. Ich stießt mir das Knie auf und konnte mich nur noch humpelnd Stufe für Stufe weiter nach oben ziehen.

Ich hörte Schritte hinter mir, sie kamen näher. Ich musste weiter, egal wie sehr das Knie schmerzte. Ich konnte nur hoffen, dass die Treppe irgendwie an die Oberfläche führen würde. Doch ich kam nicht so schnell voran, wie ich es wollte. Das Lachen war wieder zu hören und es war nah, viel zu nah. Die Angst verlieh mir Flügel und gerade als ich eine Hand an meinem Knöchel zu spüren glaubte, stolperte ich ins Freie. Ich robbte so weit von der Treppe weg wie möglich, bevor ich mich umdrehte und nach meinen Verfolgern sah.

Doch da war niemand. Ich lag auf dem feuchten Waldboden vor der Treppe in der Ruine, die ich selbst frei geräumt hatte, doch der Zugang war wieder mit Schutt und Steinen verschlossen. Die Sonne wärmte mein Gesicht, ich hörte die Vögel zwitschern und nach ein paar tiefen Atemzügen fiel die Angst wieder von mir ab. Trotzdem konnte ich es nicht erwarten, den Wald endlich zu verlassen. Er war mir fremd und unheimlich geworden. Ich erreichte den Weg nach wenigen Minuten und freute mich auf mein Heim. Dort würde ich sicher sein und nie wieder ein Wort über den heutigen Tag verlieren.

Ich bog um die Ecke und warf einen Blick auf mein Haus, doch was ich sah, erschreckte mich. Dort befanden sich nur noch die verfallenen Reste der kleinen Kate von der ich am vergangenen Morgen aufgebrochen war. Das Dach war eingestürzt, die Wände verfallen und auch der Garten war verwildert. Das konnte nicht in einer einzigen Nacht geschehen sein. Ich war durstig und fand wenigstens den Brunnen noch in einem guten Zustand vor. Langsam zog ich den Eimer an der langen Kette nach oben und schöpfte mir etwas von dem kalten, klaren Nass ins Gesicht, bevor ich einen Schluck aus dem Eimer nahm und meinen Durst löschte. Ich stellte den Eimer auf den Brunnenrand und sah nachdenklich auf die Reste meiner Heimstatt.

Was war geschehen? Mein Verstand konnte keinen Sinn in die vielen Dinge bringen, die meine Augen sahen. Nach einer Weile trat ich wieder an den Brunnen zurück und sah, wie sich mein Gesicht im Wasser des Eimers spiegelte. Es war das Gesicht eines alten Mannes mit schlohweißen Haaren.

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